Bitte geben Sie einen Grund für die Verwarnung an
Der Grund erscheint unter dem Beitrag.Bei einer weiteren Verwarnung wird das Mitglied automatisch gesperrt.
Bemerkungen zur Kultur des Spuckens und Kratzens
Zu jeder Zeit haben Orgelbauer solche Instrumente intoniert, die dem musikalischen Zeitgeschmack der Epoche entsprachen.
Dabei fällt auf, daß zwischen Barock und Romantik - also Rokoko und Klassik - eine instrumentenbauliche Innovationslücke klafft (Ausnahmen bestätigen die Regel), die Ausdruck einer Weg-Findung sein mag und einen Paradigmenwechsel darstellt, so daß es wohl gerechtfertigt ist, von "Orgel davor" und "Orgel danach" - eben von zwei deutlich abzugrenzenden Orgeltypen - zu sprechen.
Im Barock hatten die für offene und gedeckte Labiale charakteristischen Vorläufertöne offenbar eine musikalische Funktion, um Polyphonie mit dem entsprechenden perkussiven Ausdruck zur Geltung zu bringen. Daß der Grund dafür keine "mangelnde Erfahrung" der Orgelbauer - denn man wußte die Vorläufertöne mit Aufschnitthöhe, Fußlochweite, (fast) keine Kernstiche u. a. m. sehr wohl zu beeinflussen -, sondern Absicht war, liegt auf der Hand. Gleichzeitig wird durch die Vorläufertöne die Tradition der "Rhythmusgruppe" aus der Renaissance in gewisser Weise fortgeführt.
Im Gegensatz dazu verlangte der eher Melodie+Begleitung-dominierte Stil der Romantik eine "sanglichere" Wiedergabe der Werke. Das wird erreicht durch obertonärmere und sehr kombinationsfähige (Stichwort: "Verschmelzen" Begleitstimmen. Damit bestand die Notwendigkeit, die Intonationsmittel breiter anzuwenden (und mitunter zu mißbrauchen). Ob die oft zitierte Intention einer "Orchesternachbildung" ersthaft beabsichtigt war oder als Nebeneffekt in Kauf genommen wurde, bleibt m. E. fraglich.
Die Intonations-Mode der Orgelbewegung lasse ich mal außen vor, weil diese auf einer Reihe Irrtümer gründet und daher auch nicht wirklich zur barocken Intonationsmethoden zurückfand.
Wenn dieser Beitrag eine Grundlage für eine rege Diskussion ist, freue ich mich.
Tabernakelwanze
(
gelöscht
)
#2 RE: Bemerkungen zur Kultur des Spuckens und Kratzens
Zitat von PeterW
Im Barock hatten die für offene und gedeckte Labiale charakteristischen Vorläufertöne offenbar eine musikalische Funktion, um Polyphonie mit dem entsprechenden perkussiven Ausdruck zur Geltung zu bringen.
Ich kann mich nur auf meine persönlichen Erfahrungen stützen, die sich überwiegend auf Barockorgeln im norddeutschen und niederländischen Bereich erstrecken. Da gibt es, insbesondere bei Schnitger und Holy nur wenig spuckendes und kratzendes. Die Flöten u. a. sprechen i. d. R. weich und prompt an.
Diese Vorläufertöne sind vielleicht ebenfalls ein Produkt der Orgelbewegung. Pfeifen, die spucken und kratzen suggerieren das Gefühl eines "alten, überkommenen Klanges", den man sich offensichtlich wünschte, um sich von den zu der Zeit wieder überholten romantischen Klangidealen zu lösen und abzusetzen.
Gerade bei DO wird, glaube ich, nach wie vor Wert auf diese Vorläufertöne gelegt, um damit ein Gefühl der Echtheit beim Hörer zu erzeugen - auch wenn das mit barocken Klangidealen eigentlich wenig zu tun hat.
Der Theorie, dass mit bewusst intonierten Vorläufertönen an die "Rhythmusgruppen" der Renaissance angeknüpft werden soll, vermag ich mich nicht anzuschließen. Dafür ist deren Effekt dann doch vergleichsweise schwach, bzw. hatte die Percussion in der Renaissance eine zu bedeutende Rolle, als das diese durch Vorläufertöne auch nur ansatzweise nachgeahmt werden könnte.
Für den niederländisch-norddeutschen Bereich, gerade für Schnitger, treffen Deine Beobachtungen auf jeden Fall zu.
Indes vermitteln die Barock-Orgeln des Raumes von Mitteldeutschland bis Elsaß und (der Streifen auch teilweise noch ein wenig süDlicher und nördlicher bis Fläming gefaßt) ein Einschwingen über deutliche Vorläufertöne, und das macht sich nicht nur an den Silbermännern oder Trost fest; andere Beispiele sind Wildenburg(Eifel, Varenholz/Lippe u. v. a. m.
Der "perkussive" Tonansatz war also keine späte und irrige Erfindung der Orgelbewegung.
Möglicherweise wäre die Schlußfolgerung, daß deutliche Vorläufertöne - als Tendenz - ein Erbe der Renaissance sein können, etwas gewagt, wenn sie allein stehen würde. Durch den musikalischen Kontext des Barock und die von ihm zu erwartende Transparenz erhärtet, sollte sie allerdings einige Berechtigung haben. Daß dabei nicht das Bum-Bum der Trommel herauskommen sollte, versteht sich von selbst.
Zitat
Ich kann mich nur auf meine persönlichen Erfahrungen stützen, die sich überwiegend auf Barockorgeln im norddeutschen und niederländischen Bereich erstrecken. Da gibt es, insbesondere bei Schnitger und Holy nur wenig spuckendes und kratzendes. Die Flöten u. a. sprechen i. d. R. weich und prompt an.
Das muss aber nicht zwingend immer so gewesen sein. Ich habe eine vor ein paar Wochen hier im Forum verlinkte Zusammenfassung einer Forschungsarbeit gelesen. Dort hatte der Verfasser festgestellt, dass ehemals ohne Kernstiche von Schnitger hergestellte Pfeifen durch Staub im Wind über die Jahrhunderte tatsächlich Kerben im Kern erhalten hatten, die Kernstichen entsprachen. Eine heute weich ansprechende Schnitger-Flöte kann also im Urpsrung durchaus gespuckt haben.
Tabernakelwanze
(
gelöscht
)
#5 RE: Bemerkungen zur Kultur des Spuckens und Kratzens
Grundsätzlich stellt sich natürlich immer die Frage, was von der ursprünglichen Intonation historischer Orgeln überhaupt noch original auf uns überkommen ist. Es gibt wenige Instrumente, die über die Zeiten klanglich nicht verändert wurden.
So wurde bei der Rekonstruktion der Renaissance-Schwalbennestorgel in der Marienkirche Lemgo durch R. West festgestellt, dass die Prospektpfeifen von Scherer tatsächlich völlig unverändert waren und noch genauso klangen, wie zur Erbauungszeit. Ein seltener Fall.
Zitat
Marienkirche Lemgo
So ein Kleinod in Reichweite (keine 30km) und ich weiß nichts davon, Asche auf mein Haupt! Da muss ich mal hin!
Zitat
Grundsätzlich stellt sich natürlich immer die Frage, was von der ursprünglichen Intonation historischer Orgeln überhaupt noch original auf uns überkommen ist.
Mal dumm gefragt, ich habe da keine Ahnung: Gibt es überhaupt eine Möglichkeit festzustellen, ob eine Intonation vollständig unverändert ist? Kernstiche, Bärte und Mensuren sollten mit etwas Aufwand ggf. noch zu erkennen sein, aber Fußloch, Winddruck und Position des Oberlabiums?
Kirchenmusiker
(
gelöscht
)
#7 RE: Bemerkungen zur Kultur des Spuckens und Kratzens
Ja, man kann durch Vergleiche mit anderen Instrumenten eines Orgelbauers Kenntnisse über dessen Eigenarten mit Kernstichen und Fußlochgrößen gewinnen und dann daraus eine Grundlage für eine Rekonstruktion erstellen.
Dazu gehören Winddrücke und Bohrungsgrößen der Windladen und die Betrachtung der Mensuren einzelner Register, die sich bei historischen Orgelbauern meistens nicht sehr groß voneinander unterscheiden.
Interessant sich oft auch notierte Winddrücke in der Orgel, die manche Orgelbauer notiert haben. Dann kann man auf der Intonierlade mit den Pfeifen testen, wann sie die besten Töne von sich geben.
Allgemein kann man sagen, dass norddeutsche Orgeln immer schon etwas kerniger geklungen haben, als die SüDdeutschen Instrumente, was sich durch die Durchmischung später (durch die Reisetätigkeit der Orgelbauer) etwas verändert hat.
Kirchenmusiker
(
gelöscht
)
#9 RE: Bemerkungen zur Kultur des Spuckens und Kratzens
Man kann sehr nah am Original arbeiten... durch alte Überreste von Bohrungen können Pfeifenrasterhöhen verraten, alte Bezeichnungen an den Pfeifenstöcken verraten die Disposition. Wichtig ist aber das Aktenstudium in der Gemeinde. Alte Verträge geben da Aufschluss über die Disposition und den Charakter der Intonation. Und der Vergleich mit anderen originalen Orgeln des Orgelbauers ist auch ein fester Bestandteil... man lernt über die Konstruktion und Mensurierung eine Menge interessanter Details.
Und wenn man dann noch das Glück hat, eine Gemeinde zu haben, die dafür Geld ausgibt, dann kann man die Orgel sehr originalgetreu wiederherstellen.
Jetzt anmelden!
Jetzt registrieren!