Nikolaus Harnoncourt +

07.03.2016 07:25
#1 RE: Nikolaus Harnoncourt +
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Hier die epd-Meldung dazu:

Frankfurt a.M. (epd). Erst vor wenigen Wochen hatte sich Nikolaus Harnoncourt aus dem Konzertleben zurückgezogen. Am Samstag starb der Dirigent im Kreise seiner Familie im Alter von 86 Jahren. Für die Musikwelt war er einer «Der großen Musikerneuerer der Gegenwart». So nannte ihn Wolfgang Schreiber in seinem Buch «Große Dirigenten».
Harnoncourt war nicht nur ein großer Dirigent, er hat eine ganze Epoche der Musikgeschichte für den Konzertsaal wiederentdeckt, er hat als Pionier der «historischen Aufführungspraxis» der Musik des Barockzeitalters zu neuem Leben verholfen.

Nikolaus Harnoncourt stammte aus einem lothringisch-österreichischen Adelsgeschlecht, mit vollem Namen hieß er Johannes Nicolaus Graf de la Fontaine und d'Harnoncourt-Unverzagt.
Geboren wurde er 1929 in Berlin, wo sein Vater beruflich tätig war.
Einige Jahre später zog die Familie nach Graz. Nikolaus spielte schon als Kind Cello und Klavier, entschied sich dann für ein Cello-Studium in Wien.

1952 wurde er Cellist bei den Wiener Symphonikern, er behielt diese Stelle bis 1969. Im Jahr 1953 heiratete er die Geigerin Alice Hoffelner. Von den vier Kindern aus dieser Ehe war später der Sohn Philipp, geboren 1955, mit dem Vater beruflich eng verbunden, er führte bei einigen Opernaufführungen von ihm Regie.

Schon zu Beginn seiner Beschäftigung mit der Alten Musik verband Harnoncourt Theorie und Praxis. 1953 gründete er zusammen mit seiner Frau ein kleines Orchester, den Concentus Musicus. Das Ensemble trat erstmals 1958 in Wien öffentlich auf und wurde schnell berühmt. Mit ihm konnte Harnoncourt zeigen, dass die Musik des Barock nicht edel und romantisch ist, wie man sie oft gehört hatte und zuweilen immer noch hört, sondern temperamentvoll und kontrastreich.

Um Alte Musik möglichst authentisch aufzuführen, musste man zunächst zu den Quellen gehen: Was steht wirklich in den Noten? Oft sind sie fehlerhaft abgeschrieben oder bewusst bearbeitet worden. Auf welchen Instrumenten wurde gespielt? Alte Instrumente waren plötzlich wieder sehr gefragt. Interessant auch die Berichte von Zeitgenossen:
Wie erlebte man zu Bachs Zeiten Musik? Mit wachen Sinnen, durchaus erregt. Harnoncourt sprach von «Musik als Klangrede», sie ist rhythmisch betont, lebt von genauer Artikulation jeder Stimme.

Harnoncourt war sowohl ein bedeutender Opern- wie Orchesterdirigent. Er verzichtete auf den Taktstock, er formte die Musik mit den Händen, auch mit dem Gesichtsausdruck. Er arbeitete gerne mit denselben Orchestern, dem Concertgebouw Amsterdam, dem Chamber Orchestra of Europe, den Wiener und Berliner Philharmonikern.
So konnten Aufführungen von einer Qualität entstehen, die einem Gastdirigenten nur selten gelingen.

Auch sein Repertoire war - gemessen an anderen Dirigenten - überschaubar, er arbeitete sich immer intensiver in die Werke hinein.
In der Oper begann er ab 1975 mit einem Monteverdi-Zyklus in Zürich, rettete diese ersten Opern der Musikgeschichte für die Gegenwart, heute werden sie überall gespielt.

Seine besondere Liebe galt Mozart, den Opern und den Sinfonien. Er hat mit der Klarheit und rhythmischen Vielfalt, die ihn an der Barockmusik faszinierte, auch Mozart neue Impulse gegeben. Diese Energie hat ihn auch Beethoven, Schubert, Brahms oder Bruckner neu entdecken lassen. Im 20. Jahrhundert interessierten ihn besonders Béla Bartók und Alban Berg. Und gelegentlich überraschte er völlig:
Er dirigierte auch «Aida», «Carmen» und «Porgy and Beth».

Harnoncourt, schreibt Wolfgang Schreiber, «ist ein ruhelos dirigierender Forscher. Ein Prediger, Missionar, ein unablässig fordernder Geist.» Ein Künstler, der solche Ansprüche stellt, findet oft nur Verständnis bei Eingeweihten. Aber Harnoncourt wurde populär, er behielt sein Wissen nicht für sich, er gab Gesprächskonzerte, war ein vorzüglicher Erzähler.

Zahlreiche Platten- und CD-Einspielungen, seine Auftritte bei den Salzburger Festspielen und anderen Festivals und besonders die Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker, die er 2001 und 2003 leitete - auch der Wiener Walzer war für ihn keine mindere Kunst - haben ihn beim großen Publikum bekannt gemacht. Harnoncourt erhielt an die 30 Preise und Auszeichnungen, darunter 2002 den Ernst von Siemens Musikpreis, der als Nobelpreis der Musik gilt, und 2014 den Echo-Klassik-Preis für sein Lebenswerk.


Soweit epd. Dem ist eigentlich wenig hinzuzufügen. Ich habe seine Essays "Musik als Klangrede" als Student mit viel Gewinn gelesen, wenngleich ich nicht alles nachvollziehen konnte.
Meine Zweifel liegen bis heute darin begründet, dass wir letztlich nicht wissen, sondern nur vermuten und mehr oder weniger logisch folgern können, wie es "wirklich" geklungen hat.
In meinem Fundus steht eine LP-Kassette mit Bachs Osterkantaten aus den späten 60ern, die mir mein Patenonkel geschenkt hat. Ich habe sie genau zweimal angehört. Da stehen die Bläser so was von quer im Klangbild - dagegen ist ein H-Dur-Akkord auf einer mitteltönigen Orgel ein Ohrenschmeichler.
Es hat schon Gründe, dass sich die Technik des Instrumentenbaues seit 1750 weiterentwickelt hat - so wie unsere Hörgewohnheiten.

Trotzdestonichts, einer aus der Riege der großen Musikerpersönlichkeiten, die meine Lehr- und Wanderjahre begleitet haben. RIP


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07.03.2016 11:37
avatar  matjoe1 ( gelöscht )
#2 RE: Nikolaus Harnoncourt +
ma
matjoe1 ( gelöscht )

Seine frühe Einspielung der "Brandenburgischen Konzerte" mit dem Concentus Musicus Wien war nach Bach´s komplettem Orgelwerk (Lionel Rogg, EMI) der zweite Schallplattenschuber, den ich als Kind bekommen habe...
Ein ganz Großer ist gegangen.

LG
Matthias


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07.03.2016 11:59
#3 RE: Nikolaus Harnoncourt +
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Diese Aufnahme machte in der Tat Furore, zumal ziemlich zeitgleich Karajan mit den Berlinern aufnahm. Mit den Streichersachen, die Harnoncourt einspielte, konnte ich viel anfangen. Phrasierung, Bogenführung und der herbe, transparente Klang haben mir immer gut gefallen - solange es barock und bläserfrei blieb. Sobald Blechbläser auf Originalinstrumenten dazukamen, krampften meine Trommelfelle. Es kann natürlich auch sein, dass die Aufnahmetechnik der frühen 70er mit den unharmonischen Teiltönen der Klangspektren nicht zurecht kam und sie von meinen Ohren als Dissonanzen "überinterpretiert" wurden.

Den Rogg habe ich übrigens auch noch im Nähkästchen ... Aber der organistische Schwarm meiner Jugend war nun mal Mlle Alain mit ihrer ersten Bach-Gesamteinspielung aus den frühen 60ern auf (damals) nagelneuen Marcussens. Ein Jammer, dass Erato-Nachfolger Warner das nicht als CD-Remake anbietet, nachdem die beiden anderen Einspielungen aus den späten 70ern und Ende der 80er inzwischen als wohlfeile Boxen vorliegen.
Meine Platten sind nämlich abgenudelt bis auf die Karkasse.
Unsere Tontechniker haben sie mal zu digitalisieren versucht. Aber ob des heftigen Rumpelns und Knisterns aus den Rillen mussten sie mit Filtern 'ran, die der Brillanz, die ich an diesen Instrumenten so schätzte, nicht gerade zuträglich waren.
Das wäre sonst mal ein schönes Sendungsthema für eine Hommage an "Klärchen" - wie sich ihr Spiel in vier Jahrzehnten verändert hat. Ich habe nämlich noch ihre letzten Aufnahmen aus den 90ern in Masevaux und andernorts.
Ups, jetzt werde ich langsam OT ...


LG
Michael


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07.03.2016 17:46
avatar  Machthorn ( gelöscht )
#4 RE: Nikolaus Harnoncourt +
Ma
Machthorn ( gelöscht )

Ich habe mir im letzten Herbst seine Einspielung des Weihnachstoratoriums aus dem Jahr 2008 gekauft und finde sie ganz ausgezeichnet. In einer Rezension wird sie als "altersweise" bezeichnet.

Sein Verdienst dürfte ganz klar sein, historisch inspirierte Interpretation "massentauglich" gemacht zu haben. Dass er dabei zu Frühzeiten ein wenig über das Ziel hinaus geschossen sein mag, sei ihm verziehen.


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08.03.2016 09:26
avatar  matjoe1 ( gelöscht )
#5 RE: Nikolaus Harnoncourt +
ma
matjoe1 ( gelöscht )

OT, sorry:
Beim Weihnachtsoratorium bleibt für mich die ewige Referenz die Richter Aufnahme aus den Mit-Sechzigern; auch wenn es sich gerade nicht um eine dem Originalklang verbundene EInspielung handelt. Wenn ich alleine an die Solisten denke (Wunderlich, Crass, Janowitz und Ludwig), dann habe ich Dauergänsehaut.

Die Harnoncourt-Aufnahme (2006) mit dem Concentus habe ich auch; irgendwie wird sie aber zur Weihnachtszeit nie aufgelegt...

LG
Matthias


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08.03.2016 09:45
#6 RE: Nikolaus Harnoncourt +
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Moderator

Mir geht's so mit dem "Messias" in der Richter-Einspielung aus 1964. Eine Ästhetik, über die heute fast jeder die Nase rümpft - aber die Solisten! Zum Niederknien ...

Ich habe mal ein Interview mit Helmuth Rilling gemacht, als die Bach-Gesamteinspielung für Hänssler zum Bach-Jahr 2000 fertig war. U.a. habe ich ihn gefragt warum er in diese Einspielung Aufnahmen aus den frühen 80ern aufgenommen habe, statt sie neu zu machen.
Antwort: Heute (also 2000) gebe es die Solisten nicht, die ihm dafür vorschwebten ...
(Mit der damals im Zenit stehenden Emma Kirkby - für mich das Ideal eines barocken Oratorien- und Kantatensoprans - stimmte die Chemie leider nicht.)

LG
Michael


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