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RE: Zwei Minimallösungen im Hintertaunus ...
#1 RE: Zwei Minimallösungen im Hintertaunus ...
... hatte ich am Sonntag zu beorgeln:
In Hüttenberg-Reiskirchen (gleich bei mir um die Ecke) steht eine architektonisch kuriose Dorfkirche aus dem 16. Jh.: Feldsteinsockel und Fachwerkaufbau mit umlaufenden Emporen. Eigentlich zwei große Wohnzimmer hintereinander. Wenn die Bevölkerung wuchs, wurden einfach weitere Emporen eingezogen.
Die Orgel wurde 1817 gebraucht gekauft, sie stammt von einem der regionalen Kleinmeister, der in der Gegend im auslaufenden 18. Jh. einiges gewerkelt hat. 1952 baute Walcker das Innenleben neu, übernahm aber die alte (weil sehr brauchbare) Disposition. Dem Pedal gab er, wie öfter in diesen Zeiten, eine pneumatische Kegellade. Witziger Weise übernahm er die alte Manualklaviatur, deren Vorderhölzer seither komplett abgefallen sind. Wir lernen daraus: Auch die Klebekraft von grünem Schreinerpattex ist endlich. Generationen von Organisten scheinen den Ton d1 favorisiert zu haben, denn der hat an der Vorderkante eine ausgewetzte Kuhle für den rechten Daumen. Die Töne g1 und a1 sind dann wohl von Ringfinger und kleinem Finger ausgekerbt ...
Aber diese kleine Orgel hat ihre Qualitäten. Einerseits reicht sie für den Raum völlig aus. Mit 2', 1 1/3' und 1' sind äußerst flexible Vorplena für die Gemeindebegleitung möglich.
Zudem fand ich das Instrument wohlgestimmt und frisch repariert vor (was ich vor einigen Monaten mal freundlich angemahnt hatte).
https://www.dropbox.com/s/ttgemi9sr7xxjd...0Orgel.jpg?dl=0
https://www.dropbox.com/s/f0k7o7b23q4mfa...nische.jpg?dl=0
Noch eine Nummer kleiner muss es in einer deutlich größeren Kirche aus den 70er Jahren gehen. Die beiden Ortsteile Volpertshausen und Weidenhausen - durch Neubaugebiete längst zusammengewachsen - haben zwischen den alten Ortskernen eine geräumige und durch geschickte Raumaufteilung flexibel nutzbare Kirche gebaut. Immerhin noch keiner dieser fürchterlichen Mehrzweckräume ...
Zunächst war auf der Seitenempore wohl die alte Orgel der Volpertshausener Kirche provisorisch aufgebaut. Irgendwann war sie abgenudelt - und statt ein angemessenes Instrument zu bauen, verfiel man auf die absolute Minimallösung:
https://www.dropbox.com/s/oq9w3mn3pb6bwd...0Orgel.jpg?dl=0
Disposition: Gedackt 8, Prinzipal 4', Nachthorn 2', Mixtur 3-4 fach 1 1/3, dazu (gottseidank!) ein Subbass auf Einzelventillade.
Im Raum klingt das Plenum wohl gar nicht mal übel. Bosch intoniert eigentlich von je her sehr ordentlich, wenn auch die Mixturen des Seniors Werner Bosch immer recht deftig gerieten (aber nie grob!). Das klangliche "Rückgrat" dieser Orgel ist zwangsläufig Prinzipal 4' im Prospekt. Und der erfüllt die Anforderungen an einen "rechten protestantischen Prinzipal" eines mecklenburgischen "Orgelrevisors" aus dem 19. Jh voll und ganz: Er bläst den Organisten von der Bank.
Es hat trotzdem Spaß gemacht, denn die nicht mal sonderlich vielköpfige Gemeinde sang sehr gut mit.
Die Chancen, dass diese Kirche eine angemessene Orgel bekommt, liegen mittelfristig bei null. (15-20 Register wären bei gesunder, unforcierter Intonation wohl angemessen.) Die Gemeinde ist seit einigen Jahren auf NGL-Trip. (Vermutlich haben die Leute deshalb bei dem "alten Zeug", das ich gespielt habe, so kräftig mitgesungen ... ) Neben dem Altar stand reichlich Unterhaltungselektronik. Und auf der Empore lag ein Gottesdienstablauf für eine Goldkonfirmation, auf der als Rahmenmusik "Klaviervorspiel" und "Klaviernachspiel" notiert waren. Die Jubelkonfirmanden (vermutlich aus meinen Jahrgängen) werden es genossen haben ...
Das Phänomen, das Orgelmusik hier im Hinterland kaum einen Stellenwert hat, ist nicht neu. Die erste Welle war wohl in den 70er Jahren. Da sind nur die absoluten Minimalorgeln gebaut worden, obwohl in den vom "Wirtschaftswunder" geprägten Dörfern das Geld für angemessene Lösungen dagewesen wäre. In meinem Wohnort, gleich schräg über die Straße, steht eine Minimallösung mit II/8 aus dieser Zeit, im Nachbarort sind es II/9 (da hat das Pedal neben dem Subbass noch den - dringend nötigen - Krächzpommer 4') ... *seufz*.
LG
Michael
Bei uns sind solche Minimallösungen gang und gäbe... Wenn die Farben gut intoniert sind, macht es oft trotzdem viel Spaß. Ich könnte eine Handvoll Kleinstorgeln (5-7 Register) aufzählen, wo mir die 4'-Flöte stundenlang Freude bereitete.
Hierzulande stehen die Orgeln - insbesondere am Dorf - fast immer auf einem vierfüßigen Prinzipalfundament. Das zumeist darunterliegende Gedackt ist in vielen Fällen dann auch noch recht eng mensuriert, sodass es noch weniger trägt, dafür aber für ein halbwegs leises Kommunionspräludium geeignet ist.
Ich erinnere mich noch an das (m.E. schwachsinnige) Argument des Regionalkantors, als meine alte Heimatgemeinde sich eine neue Orgel leistete und ich mir - trotz Einmanualigkeit und beschränkter Registerzahl (8 oder 9 waren es wohl) - ein Prinzipalfundament auf 8'-Basis wünschte. Der gute Mann winkte ab und meinte: "Dann wird alles größer." Auf meine verständnislose Rückfrage, wem damit Schaden entstünde, erhielt ich keine Antwort mehr.
#3 RE: Zwei Minimallösungen im Hintertaunus ...
Ich kenne auch einige wenige Räume, in denen das Prinzipalfundament 8' entbehrlich ist. Die - meistens gar nicht so kleinen - Kirchen, in denen es hörbar fehlt, überwiegen in meinem Erfahrungshorizont aber bei weitem. Paradebeispiel war ja meine langjährige Dienstkirche, in der wir dem eklatanten Mangel an Prinzipalfundament ja dann digital abgeholfen hatten.
Wenn mich jemand vor 30 Jahren nach der absoluten einmanualigen Minimallösung für eine Haus- oder Friedhofskapellen-Orgel gefragt hätte, hätte ich geantwortet: Gedackt 8', Prinzipal 4' und Subbass im Pedal.
Heute würde meine Antwort lauten: Prinzipal 8', Gemshorn 4', Subbass.
LG
Michael
Darin finde ich mich gut wieder.
An meiner einen Dienstorgel - die du ja durch deinen Besuch kennst - entscheide ich mich beim Begleiten des Gemeindegesangs zumeist für genau jene Register: Prinzipal 8', darüber Gemshorn 4'. Da die Oktave 4' eine Transmission der 8'-Reihe ist, empfiehlt sich einfach die Wahl verschiedener Pfeifenreihen, um ein transparentes und klanglückenloses Spiel zu erzielen. Sicher wäre auch die umgekehrte Registrierung möglich: Gemshorn 8' (ja, daraus ist die 4'-Lage ebenfalls transmittiert) und Oktave 4'; Letztgenannte ist mir allerdings zu plärrig, da tönt die zuvor genannte Registrierung erheblich besser. Das fett mensurierte Doppelgedackt 8' dazu - und man hat einen überaus tragfähigen Klang, der die Kirche bestens füllt.
Diese "Minimallösungen" (auch in meiner Heimatregion, der früher bettelarmen Eifel, gelegentlich zu finden) haben noch einen weiteren unschönen Effekt: Mit solch einem dünnen Klang, ein paar Gedackte, Vierfußprinzipal und eine Alles-oder-nichts-Mixtur, bekommt man meist nur einen "Die-Orgel-spielt"-Klang hin. Mit solchem Klang ein Kind fürs Orgelspiel zu begeistern stelle ich mir ungleich schwieriger vor als mit einer Orgel, die wenigstens einige Solomöglichkeiten (vielleicht mit Tremulant), eine Zunge und ein gesundes (Prinzipal-)Fundament besitzt.
Klar, man kann nicht überall große Orgeln bauen, aber natürlich hat mich als Kind der Klang unserer Dorforgel (16' Manual, Trompete, Aliquote, Pedalzunge vorhanden) beeindruckt, auch weil sie ordentlich gespielt wurde. Zum Orgel selber spielen brachte mich dann aber ein Konzert in dem 7 km entfernten nächstgrößeren Ort, wo eine kathedralhafte Akustik einen perfekten Rahmen für eine wunderschöne Schwebung, Oboe, Offenflöte, Kornett, Prinzipalchor ab 16' usw. bildeten.
Wenn ich nur "Die-Orgel-spielt"-Klänge gehört hätte, möglicherweise von einem deutlich untermotorisierten Instrument (Prinzipal-4'-Basis in Kirchen mit 300 Sitzplätzen, was leider gelegentlich zu finden ist), hätte ich vermutlich nie einen Zugang zur Orgel entwickelt. Insofern bin ich den Verantwortlichen und den Gläubigen in meiner Heimat schon dankbar dafür, sich damals etwas Vernünftiges geleistet zu haben.
#6 RE: Zwei Minimallösungen im Hintertaunus ...
Zitat von Martin78
Wenn ich nur "Die-Orgel-spielt"-Klänge gehört hätte, möglicherweise von einem deutlich untermotorisierten Instrument (Prinzipal-4'-Basis in Kirchen mit 300 Sitzplätzen, was leider gelegentlich zu finden ist), hätte ich vermutlich nie einen Zugang zur Orgel entwickelt. Insofern bin ich den Verantwortlichen und den Gläubigen in meiner Heimat schon dankbar dafür, sich damals etwas Vernünftiges geleistet zu haben.
Das kann ich aus meiner eigenen Biographie heraus nur bestätigen.
#7 RE: Zwei Minimallösungen im Hintertaunus ...
Ja, mir ging es genauso. Hätte ich als Kind und Klaviersäugling nur solche Minimallösungen gehört, wäre mein Interesse am Orgelklang und Orgelspiel sicher nicht geweckt worden. Stattdessen bekam meine Heimatkirche anno '60 einen Neubau mit III/35 aus dem Hause Klais. Diese Orgel gilt als prototypisch für den Spätstil von Hans Klais und blieb bis heute unbefummelt von Verschlimmbesserern. Mein Lehrer spielte im Nachbarort eine Haerpfer mit III/49 aus 1957 und bei meinem Gymnasium um die Ecke stand in der Kirche der zweiten Stadtpfarrei eine Führer aus 1966 mit III/36, die sensationeller Weise damals einen sechsfachen Setzer bekam, mit einem Schrank voller elektromechanischer Relais in der Sakristei. Wenn man eine Kombination drückte, hörte man es durch die Sakristeitür heftig Rummsen und Klacken. Mein Onkel war dort im Kirchenvorstand und ich durfte in der großen Pause und in Freistunden in dieser Kirche üben.
Mit 15 hatte ich so die Schlüssel zu drei relativ großen, neuen und sehr guten Orgeln in der Tasche. Das wirkte durchaus motivierend. Vor allem schätzte ich den synauaralen Vergleich: Wie klingt welches Stück auf welcher Orgel?
Mit 16 hatte ich dann meine erste "eigene" Orgel - in der Filialkirche der Dienstgemeinde meines Orgellehrers. Ein moderner Betonbau, der nach der Jahrtausendwende mangels Besuchern wieder abgerissen wurde. Die Orgel aus 1968 mit II/14 stammte von Späth/Ennetach und war sehr sehr kräftig intoniert. Die Prinzipale (im Hw natürlich ab 8', darauf hatte mein Lehrer bestanden), bliesen schon gewaltig. Das war auch nötig, denn der würfelförmige Bau hatte ein beträchtliches Volumen. Es war eine Buxtehude-Orgel. Brillant, kantig, kraftvoll, klar. Ich mochte sie durchaus.
Späth hat in meiner Heimat vor und nach dem Krieg viel gebaut. Im Heimatort meiner Mutter, wo mein Opa die Orgel schlug, gab es das exakte Gegenstück: In eine moderne Dorfkirche aus den 30ern vom berühmten Clemens Holzmeister bauten die Ennetacher 1965 II/26, streng nach Supper wörtlich aus dessen "Orgeldisposition" abgeschrieben, aber sehr weich, süDdeutsch singend intoniert. Zwar Schleiflade, aber elektrisch traktiert. Eine feine Orgel, der ebenfalls bis heute eine pseudo-Romantisierung erspart blieb. Während man in meiner ersten Dienstkirche befürchten musste, mit dem Prinzipal 2' vom Ow die Gemeinde niederzubrüllen, Konnte man beim Opa-Vertreten schon mal die Mixturen und sogar die (sehr dezente, schlanke) Trompete 8' zur Gemeindebegleitung ziehen.
LG
Michael
Zitat von Wichernkantor
Stattdessen bekam meine Heimatkirche anno '60 eine Neubau mit III/35 aus dem Hause Klais. Diese Orgel galt als prototypisch für den Spätstil von Hans Klais und blieb bis heute unbefummelt von Verschlimmbesserern.
Lasst uns darauf ein Loblied anstimmen!
#9 RE: Zwei Minimallösungen im Hintertaunus ...
Hallo,
Zitat von Wichernkantor
Interessant, was Peter so treibt ...
Er stöbert immer in Repertoire-Ecken und findet so manche hörenswerte Nische.
Peter oder Martin78?
Wir hatten das auch schon im Konzert, was mich beim Ausfüllen der GEMA-Meldung etwas ratlos gemacht hat:
Caccini oder Vavilov?
Ich habe mich letztlich nach dem Programmzettel (Caccini) gerichtet.
Beste Grüße von der Waterkant
Christoph P.
Jenes Ave Maria stammt m.W. von Vladimir Vavilov, wurde jedoch unter dem Pseudonym Caccini verbreitet.
Zitat
Vavilov published this work anonymously in 1972; it was mistakenly ascribed to Giulio Caccini around 1987.
Quelle: http://www3.cpdl.org/wiki/index.php/Ave_Maria_(Vladimir_Vavilov)
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