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RE: Ein Original in der hessischen Orgellandschaft
#1 RE: Ein Original in der hessischen Orgellandschaft
In der vergangenen Woche war ich mit einem befreundeten Kollegen mal wieder auf Spontan-Exkursion. In der ev. Marienkirche Gelnhausen (das liegt auf halbem Weg zwischen Fulda und Hanau im Kinzigtal) gibt es seit einigen Monaten eine neue Orgelanlage aus der Werkstatt von Claudius Winterhalter, die uns der dortige Kollege Sascha Heberling mit höchster Kompetenz und ebenso sichtlichem wie berechtigtem Stolz vorführte.
Die Gemeinde hat 1,3 Millionen Euro und eine Menge Gehirnschmalz investiert, um eine zeitgemäße Orgel zu beschaffen. Bewusst hat man sich – nach längerer Diskussion – nicht für eine Stilkopie entschieden.
Es gibt in Gelnhausen zwar eine 180jährige Orgelbautradition durch die Firma Ratzmann/Schmidt. Allerdings ist von der unrsprünglichen Ratzmann-Orgel aus den 1840ern nur noch ein stilvolles neogotisches Gehäuse an der Westwand übriggeblieben.
https://www.dropbox.com/s/dswlls52t467v2e/Gelnhausen%2C%20Marienkirche%20Hauptorgel.jpg?dl=0
In den 60er Jahren des 20. Jh. kam ein neues orgelbewegtes Werk von Bernhard Schmidt ins Gehäuse. Somit war keinerlei technische oder klingende Originalsubstanz aus dem 19. Jh. vorhanden. Daher fiel nach ausgiebiger Diskussion die Entscheidung, ein Instrument zu bauen, dessen Klanggebung vom Anforderungsprofil des ev. Gottesdienstes im 21. Jh. und von den räumlichen Gegebenheiten her entwickelt wurde.
Zu letzteren gehört das Fehlen einer Westempore. Das alte Gehäuse hängt quasi frei vor der Westwand, der Chor hat seinen Platz vorn in der Vierung, im linken Seitenschiff. Daher bildete der Bau einer Chororgel an dieser Stelle den ersten Abschnitt des Projektes. Das Gehäuse dieses Instrumentes mit zehn realen, auf zwei Manuale verteilten Registern und komplett transmittiertem Pedal nimmt keinerlei stilistische Anleihen an den spätromanischen Raum, sondern tritt bewusst in Kontrast zu den Rundbögen von Lettner und Seitenschiff-Arkaden. Ich finde es „gewöhnungsbedürftig“ – vor allem die Überlängen der Prospektpfeifen erinnern mich an die „Lattenzäune“ der Freipfeifenprospekte, die zwischen den Weltkriegen bis in die 50er weit verbreitet waren.
https://www.dropbox.com/s/go78t08bb9hqnk...rorgel.jpg?dl=0
Das Instrument ist so aufgestellt, dass es vom Großteil der Plätze im Hauptschiff aus zu sehen ist und daher dort den Direktschall abgibt, der für die Gemeindebegleitung nötig ist. Dieser Option tragen Disposition und Intonation der Register ebenso Rechnung wie den Erfordernissen einer differenzierten und flexiblen Chor- und Continuopraxis. Das Klangbild kann in der 8’- und 4’- Lage dynamisch engstufig ausdifferenziert werden. Das Schwellwerk ist äußerst wirksam. Dort steht die einzige Zunge der Chororgel, eine runde Trompette 8’. Sie hat eine Extension als 16’ ins Pedal und ist über eine ausgebaute Manualkoppel als 4’ verwendbar. Das sehr dicht schließende Schwellwerk erlaubt die Reduzierung auf ein leise grummelndes Mezzopiano. Zwischen Mezzopiano und Mezzoforte liegen die klanglichen Reize dieses Werkes. Die Intonation aller Stimmen ist unforciert und auf Mischungsfähigkeit angelegt. Die Oktave 4’ des Chororgel-Hauptwerkes beginnt über die Hochkoppel diskret zu leuchten. Dadurch erhält das Werk eine sanfte Helligkeit, die barocken Continuo ebenso ermöglicht wie ein mild glänzendes, mixturloses Plenum.
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Beide Manualwerke sind als „floating elements“ an jede Klaviatur des dreimanualigen Zentralspieltisches koppelbar. Dieser Spieltisch steht in Normalposition im rechten Arm des Querhauses, durch einen Vierungspfeiler etwas "abgetarnt", ist aber beweglich eingerichtet.
https://www.dropbox.com/s/45svl6xrfr40ns...ltisch.jpg?dl=0
Die Hauptorgel ist ebenfalls zweimanualig ausgelegt. Das Hw steht auf einem satten Prinzipal 16’. Der ist auch ins Pedal transmittiert. Damit die Basslinie gut zeichnet, hat das Pedal einen eigenständigen Contrabass, der ganz nett sägt. Auch dieser Orgelkörper hat ein stattliches, sehr wirksames Schwellwerk. Ein Teil der Flöten und Streicher stammt aus Siemann-Orgeln des frühen 20. Jh. und wurde in der Werkstatt sorgfältig aufgearbeitet. Würde man versuchen, die Ästhetik dieser Orgel in eine Schublade zu stecken, so käme die Charakterisierung „frühe deutsche Romantik“ (Walcker, Ladegast) dem noch am nächsten.
https://www.dropbox.com/s/ufkommupjqzk4m...torgel.jpg?dl=0
Die Flöten sind farblich differenziert, die Streicher ebenfalls sehr nuanciert und fein gestuft. Die Prinzipale haben Kern und Kraft, zeichnen aber im Plenum ein gut durchhörbares polyphones Geflecht. Das Sw hat keine der derzeit in Mode stehenden Fournitures auf 2 2/3’-Basis, sondern eine klassische Mixtur 4-5f
1 1/3, die in einem barocken Plenum Brillanz und Klarheit erbringt. Jedes Werk hat Quinte und Terz als Einzelaliquoten, im Hw prinzipalig, im Sw flötig. Zusammen mit den unterbauenden Flöten sind sie über Kollektivzüge als Cornette registrierbar. Ein ausgesprochen feinnerviger Intonateur hat ein Klangbild komponiert, das mich in seiner Konsequenz und Schlüssigkeit völlig überzeugt. Die Orgel ermöglicht hoch differenzierte Klangnuancen, dank der Oktavkoppeln und den eher gleichmäßigen Mensurverläufen sind gläserne Farben möglich, die Karg-Elert und den Komponisten der deutschen Frühmoderne entgegenkommen. Von ersterem bot uns der Hausherr mit dem „Solfegietto“ einen herrlichen Strauß in schillernden Farben.
Chapeau vor dieser in jeder Hinsicht originalen und originellen Orgel! Eine Lösung der Orgelfrage für diesen Raum, die mich völlig überzeugt. Ich werte sie als gelungenen Versuch, ein schlüssiges Instrument jenseits stilistischer Modeerscheinungen zu bauen. Eine in Gottesdienst und Konzert gleichermaßen brauchbare Orgel des 21. Jahrhunderts. Wenn es mal den ersten Tonträger von ihr gibt (gern mit Distler, Hindemith, Karg-Elert und anderen Raritäten): *habenwill*! :dafuer:
LG
Michael
Hallo Michael
Danke für den interessanten Bericht. Mir gefällt das Design der Orgel gut, vor allem wirken die Prospektpfeifen ungemein edel. Was mich noch wundert: die Tastatur des Spieltisches sieht aus, als wäre sie aus Kunststoff; täuscht mich der Eindruck - oder wurden tatsächlich Kunststoff-Tasten verwendet?
Und: gibt es irgendwo etwas "Hörbares"?
#4 RE: Ein Original in der hessischen Orgellandschaft
Zitat von Ebi
Was mich noch wundert: die Tastatur des Spieltisches sieht aus, als wäre sie aus Kunststoff; täuscht mich der Eindruck - oder wurden tatsächlich Kunststoff-Tasten verwendet?
Und: gibt es irgendwo etwas "Hörbares"?
Nein, das sind natürlich Holzklaviaturen mit dem neuen, leicht angerauhten Keramikbelag, der inzwischen viel verwendet wird. Das spielt sich prima. Einen Tonträger gibt es leider noch nicht. Der Kollege ist mit seiner Orgel noch in den "Flitterwochen" - da sollte man nicht drängen ...
LG
Michael
#5 RE: Ein Original in der hessischen Orgellandschaft
Zitat von Larigot
Hast du zufällig weitere Informationen zu den Chimes? Sind das voll ausgebaute Röhrenglocken? Und hat Sascha Heberling vielleicht etwas dazu gesagt, wieso die Wahl gerade auf dieses Effektregister gefallen ist?
Bis dahin sind wir gar nicht gekommen. Die Register waren fesselnd genug. Ich nehme mal an, dass die Chimes die Zugabe des Herstellers sind. Heberling ist keiner, der auf "Effekte" aus ist, sondern ein äußerst sensibler und raffinierter Klangregisseur. Ich habe die "Chimes" nicht vermißt. Die Orgel hat auch weder Hochdruckbrüller noch Krawalltröten. Da ist einfach alles edel und sonor intoniert.
LG
Michael
#7 RE: Ein Original in der hessischen Orgellandschaft
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