Buch zu Wiener Domorgel

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17.04.2020 15:28 (zuletzt bearbeitet: 17.04.2020 16:53)
#1 Buch zu Wiener Domorgel
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Moderator

Wie ich bereits an anderer Stelle geschrieben habe, gibt es bereits ein Buch zur neuen Orgel. Ich habe es an Gründonnerstag bekommen und inzwischen gelesen. (Und dabei den Kopf geschüttelt über manche Kaffesatzdeuterei im Vorfeld - Stichwort: "Pitmanlade")
Sehr lesenswert - vor allem die Kapitel, in denen die Genese des Instrumentes aus den Perspektiven des Orgelbauers und der verantwortlichen Musiker beschrieben wird. Das ganze illustriert mit aussagekräftigem und handwerklich gut gemachtem Bildmaterial.

Mit Erstaunen habe ich gelesen, dass es sich bei der eingebauten elektrischen Traktur um eine so genannte "Proportionaltraktur" handelt, die Rieger selber entwickelt hat. D.h. Tastenfall und Ventilöffnung sind kongruent. D.h. weiter: Der Spieler kann artikulieren wie bei einer mechanischen Traktur.

Ein befreundeter OBM, der hier im Nachbarort seine Werkstatt hat, ist Spezialist für Elektrik und Elektronik im Spieltisch- und Trakturbau. Und er hat seit Jahren die europäischen Nutzungsrechte für ein kanadisches Patent. U.a. hat er eine Proportionaltraktur in die neue Orgel des großen Sendesaals von Radio France in Paris eingebaut. Daher hatte ich ihn zunächst im Verdacht, auch in Wien am Werk gewesen zu sein - zumal er einige Jahre bei Rieger gearbeitet hat.

Doch er bestätigte mir, dass Rieger vor nicht allzu langer Zeit ein eigenes System entwickelt habe, das mit Motoren arbeite. Es sei mehr oder weniger "geheim" und werde nicht an andere Firmen verkauft.

Heuss (wo er lange Chef der Spieltischfertigung war) und Laukhuff hätten ebenfalls eigene Systeme entwickelt. Heuss habe aber die Fertigung wieder eingestellt - und nun aufgemerkt bei der Begründung: Es bestehe keine Nachfrage ...

Da haben die Organisten sich über Jahrzehnte gewünscht, dass elektrische Trakturen mehr können als die Schalterstellungen "Ein" und "Aus". Da gibt es seit etwa zehn Jahren mehrere serienreife Systeme - und keiner verwendet sie.

Grund dafür könnten die Kosten sein. Ein Element, bestehend aus Abnehmer an der Taste und Zugsystem im Windkasten, kostet rund 100 Euronen, d.h. bei einer zweimanualigen Orgel liegen die Kosten bei 13-14 T€.
Ich weiß leider nicht, welche Summe die Orgelbauer in der Kalkulation für eine zweimanualige Spielmechanik nebst Abstraktur ansetzen.

Das kanadische System arbeitet übrigens nicht mit Motoren, sondern mit Magneten, die den Tastenfall in ein Magnetfeld umsetzen, in dem das Ventil in die richtige Position gezogen und fixiert wird.

In Wien wird es bald eine zweite Orgel mit Proportionaltraktur geben. Mein Freund hat den Auftrag, eine große Orgel dort entsprechend umzubauen.

LG
Michael


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17.04.2020 17:55
#2 RE: Buch zu Wiener Domorgel
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Moderator

Also doch nicht ganz so geheim: Bei YT gibt's sogar ein Video, das die Funktionsweise der Proportionaltraktur à la Rieger erklärt.

https://www.youtube.com/watch?v=kgSBiN-r...e=youtu.be&t=66

LG
Michael


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17.04.2020 18:43
avatar  Orgelkater ( gelöscht )
#3 RE: Buch zu Wiener Domorgel
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Orgelkater ( gelöscht )

Nun, an diesem Thema arbeitet ja man ja schon lange. Wenn ich mich recht erinnere hat die Fa. Kuhn 1987 auf Anregung des damaligen Organisten Heiner Kühner bereit ein derartiges System für den Koppelapparat entwickelt. Heiner erzählte mir damals, dass die Diskussion darüber und die Realisation etwas durch den Spruch "Raketen kann zum Mond schießen" befeuert wurde


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17.04.2020 18:49
avatar  Flauten
#4 RE: Buch zu Wiener Domorgel
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Als ich weiß ja nicht, ob man sich (und den kommenden Generationen) einen großen Gefallen damit tut, wenn man im (traditionellen) Orgelbau so viel Elektronik und Elektrik verbaut . . .

Wenn ich mich allein in meinem näheren und weiteren Umkreis umschaue, wie viele Orgeln, in die "innovative" elektrische/elektronische/hydraulische Baugruppen eingebaut worden sind, nach - für ein Orgelleben - kurzer Zeit von 10(!) bis 20 Jahren gewaltige Investitionen getätigt werden müssen, weil Bauteile defekt sind, es keine adäquaten Erstzteile mehr gibt, Brandgefhar herrscht . . . Von den diversen pneumatischen Systemen aus dem beginn des 20. Jh. will ich gar nicht reden. Da lobe ich mir schon eine solide gebaute, vollmechanische Orgel, die auch nach 30/40/50 Jahren ohne große technische Nachinvestitionen noch ganz ordentlich funktionieren.

Mit skeptischem Gruß

Flauten


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17.04.2020 18:49
avatar  Orgelkater ( gelöscht )
#5 RE: Buch zu Wiener Domorgel
Or
Orgelkater ( gelöscht )

Einen weiteren Anlauf gab es in Kanada durch die - wenn mich mein Gedächtnis ebenfalls nicht trügt - ebenfalls nicht trügt durch die Fa. Syncordia unter der Leitung von Pierre Pelletier. Ein Resultat davon durfte einmal im schweizerischen Fribourg in einer Kirche mittlerer Größe besichtigen. Dort hatte ein Schweizer Orgelbauer dieses System für einen fahrbaren Spieltisch im Chorraum verwendet, der mechanische Spieltisch auf der Empore war natürlich weiterhin spielbar. Die Kunst der Imagination im Abgleich mit der Realität zusammen mit den enormen Kosten beschwerte diesem Projekt keinen weiteren Fortschritt.


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17.04.2020 19:08 (zuletzt bearbeitet: 17.04.2020 19:12)
avatar  Orgelkater ( gelöscht )
#6 RE: Buch zu Wiener Domorgel
Or
Orgelkater ( gelöscht )

Die Nachfolgefirma NovelOrg- ebenfalls von Pelletier geleitet - landete im Einbau eines weiterentwickelten Systems in der meines Erachtens hervorragenden Martin Pasi-Orgel in der Co-Cathedral in Houston TX internationale Beachtung - der Kostenfaktor war ebenfalls enorm, aber ist eben Texas...

Ich selbst konnte mich an einer kleinen Hausorgel von des kanadischen Orgelbauers Karl Wilhelm in St. Hilaire von dessen Präzision überzeugen. Zweimanualig, 4 Register, und mit der üblichen "gefährlichen" Traktur von Wilhelms Instrumenten, war beim Spiel sowohl rein mechanisch oder mittels NovelOrg kein Unterschied zu bemerken. Bemerkenswert - wie auch die Kosten. Karl, ansonsten ein höchst konservativer Orgelbauer, der erst im Vergleich zu seiner Kollegengeneration Setzerkombinationen in seinen letzten Instrumenten einbaute, und ein vehementer Advokat für die mechanische Orgel war und ist, war selbst von diesem Ergebnis überzeugt.

Bei einem Besuch bei Pelletier, der damals auf der Suche nach einem deutschen Repräsentanten war, sprachen wir über Realisationsmöglichkeiten in Deutschland, das damals noch in den festen Händen der Apogeleten mechanischer Spieltraktursystem war. Mir schien der Markt damals so zu sein, dass vornehmlich bei Problematiken mechanischer Systeme (Trakturführung und -wege) oder bei Erweiterungen eines Instrumentes, bei denen das Wechselspiel zwischen An- und Sprache von Pfeifen und der Reaktion des Spieles auf diese Möglichkeiten, diese auch hörbar sind, die Kosten zu rechtfertigen sind.

Vor einigen Jahren spielte ich einen Neubau einer nicht so ganz unprominenten Werkstätte: ein dreimanualiges Instrument mit einem elektrisch traktierten 3. Manual. Die Traktur der ersten beiden Manuale sehr sensibel und inspierend, der Schock eines "ich kann nichts machen" ergab sich immer auf dem 3. Manual. Hier wäre ein wie auch immer geartetes Proportionalsystem angebracht gewesen.


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17.04.2020 19:15
avatar  Orgelkater ( gelöscht )
#7 RE: Buch zu Wiener Domorgel
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Orgelkater ( gelöscht )

Und natürlich auch: In den vergangenen Jahren haben immer mehr Proportionalsysteme Einzug gehalten. Eine Novität ist das Rieger-System deshalb nicht - was ich auch nicht abwertend meine. Nun ist es eben an ganz prominenter Stelle etabliert. Gut so!


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18.04.2020 16:35
#8 RE: Buch zu Wiener Domorgel
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Moderator

Nach einem ersten Durchlesen habe ich mich nochmal mit dem Entscheidungsprozess befaßt. Dabei fiel mir auf, dass Peter Planyavsky, der ja m.W. in den Beraterkreis einbezogen wurde, nicht erwähnt wird. In einem der Fernsehbeiträge kam er ja zu Wort.

Er war ja wenn nicht der erste, dann doch der prominenteste Musiker am Dom, der der alten Orgel ihre Untauglichkeit bescheinigt und den Bau der jetzigen "Chororgel" vorangetrieben hatte.
Im Ergebnis scheint ja jetzt eine Ideallösung für den Raum gefunden.
Ich bin sehr gespannt, das Instrument live zu erleben.

LG
Michael


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19.04.2020 16:29
avatar  Plany ( gelöscht )
#9 RE: Buch zu Wiener Domorgel
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Plany ( gelöscht )

Ich habe auf Ersuchen des Domkapellmeisters 2011 die Angebote für das ursprüngliche Projekt evaluiert. Es umfasst einzig die Wiederbelebung / Restaurierung der Riesenorgel incl. beuhtsame Erweiterungen. Vom jetzt realisierten Projekt einer Gesamt-Orgelanlage war damals keine Rede. Insoferne war ich DAMALS Berater, scheine aber zur Recht JETZT nicht mehr auf.


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19.04.2020 16:41
avatar  Plany ( gelöscht )
#10 RE: Buch zu Wiener Domorgel
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Plany ( gelöscht )

Mein Einschätzung, warum die Nachfrage nach den neuen Ventil-Öffnungs-Systemen so gering ist: es wird nur mehr ganz wenig Literatur gespielt, wo derlei subtile Beeinflussung eine Rolle spielen könnte. Der Anteil an Musik von Bach und vor Bach in den Programmen liegt momentan irgendwo bei höchstens 10-15 Prozent. Ich habe mir die Mühe gemacht, einmal das Repertorie eines kompletten Orgelfestival durchzuzählen: von 192 Postiitonen in 48 Programmen gab es 13 "normale" Orgelstücke von Bach. Für alles von Guilmant bis Escaich ist es so gut wie irrelevant, ob man eine mechanische oder eine elektrische (welcher Art auch immer) Spietraktur hat. Das konstatiere ich völlig wertfrei - es erklärt nur so manches, auch bezüglich der Registrierpraxis und der Mode, immer mindestens 2 Pedalkoppeln zu verwenden.


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19.04.2020 17:45
#11 RE: Buch zu Wiener Domorgel
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Administrator

Nun guck, wer wieder bei uns ist:
Willkommen, lieber Herr Professor PP!


Auf Orgelsuche.

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19.04.2020 18:08 (zuletzt bearbeitet: 19.04.2020 18:13)
avatar  Orgelkater ( gelöscht )
#12 RE: Buch zu Wiener Domorgel
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Orgelkater ( gelöscht )

Und - bei bei aller Zustimmung diesem Beitrag - nur noch die Ergänzung, dass man bei entsprechender Akustik gar an einem weit entfernten Spieltisch gar nichts von den Vorzügen gegenüber einer konventionellen elektrischen Traktur hat. Interessant auch der Beitrag von Gerhard Grenzing in der März-Ausgabe des Diapasons, der von seinem Instrument für Radio France in Paris wohl von dem einzigen Instrument seiner Art spricht/schreibt, indem der mechanische und der elektrische Spieltisch simultan gespielt werden können. Ein Schmunzeln hat bei mir hervorgerufen, dass die geplanten frei einstellbaren Intervallkoppeln und die frei einstellbare Pedalteilung laut seinem Artikel immer noch in der Vorbereitungsphase sind...

Also, probieren wir es aus, Einsatzmöglichkeiten gibt es genug!


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19.04.2020 18:14
#13 RE: Buch zu Wiener Domorgel
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Moderator

Entsinne ich mich recht, dass ursprünglich eine andere Disposition veröffentlicht worden ist? Ich glaube, mal etwas gelesen zu haben, das deutlich die Handschrift des Hauses Klais trug. (Beim erwähnten Konkurs des Unternehmens, das im Auftrag die Prospektpfeifen sanieren sollte, kann es sich ja eigentlich nur um Giesicke handeln.) In dieser Disposition war reichlicher als jetzt von doppelten Prinzipalreihen Gebrauch gemacht und etwas mehr Substanz in die drei Brüstungswerke gelegt - zweifellos aus der Erkenntnis gezeugt, dass die Klangmasse aus dem Turmraum heraus und näher an die Leute gerückt werden muss.

LG
Michael (der sich gerade mal wieder die Motette-CD 11641 zu Gemüte geführt hat.)


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19.04.2020 19:53
#14 RE: Buch zu Wiener Domorgel
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Moderator

Zitat von Plany im Beitrag #10
Mein Einschätzung, warum die Nachfrage nach den neuen Ventil-Öffnungs-Systemen so gering ist: es wird nur mehr ganz wenig Literatur gespielt, wo derlei subtile Beeinflussung eine Rolle spielen könnte. Der Anteil an Musik von Bach und vor Bach in den Programmen liegt momentan irgendwo bei höchstens 10-15 Prozent. Ich habe mir die Mühe gemacht, einmal das Repertorie eines kompletten Orgelfestival durchzuzählen: von 192 Postiitonen in 48 Programmen gab es 13 "normale" Orgelstücke von Bach. Für alles von Guilmant bis Escaich ist es so gut wie irrelevant, ob man eine mechanische oder eine elektrische (welcher Art auch immer) Spietraktur hat ...


Mir fällt auch seit längerem auf, dass die Zahl der "bachfreien" Konzertprogramme deutlich zugenommen hat. Dass es so signifikant ist, hätte ich nicht vermutet. Die vier barocken B der Orgelmusik, Bach, Böhm, Bruhns, Buxtehude, sind offensichtlich out. Eigentlich ein Anlass, mal wieder solche Programme zu gestalten ...

Auch den Umstand, dass "normale" elektrische Trakturen und sogar Pneumatiken heute wieder weitgehend salonfähig sind, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich hatte Anfang der 80er auf meiner ersten hauptamtlichen Stelle eine pneumatische Orgel aus den 30er Jahren. Darob galt mir damals das Mitgefühl aller Kollegen - wiewohl es eine der wenigen recht pünktlichen Pneumatiken war, die mir seither begegnet sind.

LG
Michael


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20.04.2020 09:39
avatar  Plany ( gelöscht )
#15 RE: Buch zu Wiener Domorgel
Pl
Plany ( gelöscht )

Noch eine Ergänzung betr. Repertoire-Schwerpunkte: Auch bei Weittbewerben zeigt es sich: Romantik und Moderne werden gut bis sehr gut bespielt (abgesehen von jenen, die immer das schnellstmögliche Tempo wählen). Hingegen sind viele bei Bach und früherer Musik eher ratlos, gerade auch was Registrierung betrifft. Das bedeutet: auch die Lehrer dieser jüngsten Generation haben diesen Schwerpunkt-Schwenk bereits mitgemacht.


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