Orgelweihe in Gießen

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21.09.2015 08:34
#31 RE: Orgelweihe in Gießen
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Moderator

Zitat von Martin78

Wie gesagt: Es steht jedem frei, sich im PO-Forum zu registrieren und sich selbst ein Bild von diesem Forum zu machen.



Da sind wir völlig einer Meinung. Prost:

Zurück zum Thema:
Da eine Orgel, die mir spontan überhaupt nicht gefallen hat, eine zweite Chance verdient hat, habe ich mich gestern Abend nochmal in die Bonifatiuskirche fahren lassen (Selberfahren ist wg. Kreislaufproblemen gerade etwas riskant ...), um Krystian Skoczoswsky aus Hanau zu hören. Und das war es in jeder Hinsicht wert.
Einerseits ein ausgesprochenes Raritätenprogramm, dargeboten von einem souverän agierenden Interpreten: u. a. Hindemiths 1. Sonate (ewig nicht gehört!), Dom Paul Benoits majestätisch-archaischen "Introit" über das gregor. "Gaudeamus" und Liszst "Einleitung zur der Legende von der Heiligen Elisabeth".
Andererseits hörte ich eine völlig andere Orgel als am vergangenen Samstag ...
Der Interpret hatte zweifellos sorgfältig ausgetestet, was man weglassen muss, um zu ausgewogenen Plena zu kommen - die ganzen Querkoppeln kamen nicht zum Einsatz, dafür beide Schwelltritte umso reichlicher, die Tuba nur zweimal, und zwar solistisch - und in ihrer Funktion als "Tuba", zum deutlichen Herausarbeiten markanter Bassmotive, u.a. im Liszt. Da wirkte sie dann sehr nachdrücklich, denn ihr Einsatz war schlüssig aus dem orchestralen Kontext der Partitur entwickelt. Der Liszt ist ja im Original kein Orgelwerk. Und zur derzeitigen Transkriptionswut jedes romantischen Orchester-Schinkens, der sich nicht dagegen wehrt, habe ich eine dezidierte Meinung.
Aber was der Interpret aus Stück und Instrument an orchestralen Klängen und an feinstest gestufter Dynamik herausholte, war schon mehr als beeindruckend.
Gerade die beiden Schwellwerke, eines flötig, das andere streichend registriert, boten die Option, mit changierenden Klangflächen zu arbeiten.
Lässt man die dicken Pedalbrummer und Krawallzungen weg, hat die Orgel ein sehr kompaktes, substantielles und recht gut ausbalanciertes Plenum. Das hat mich wirklich an die britischen Kathedralorgeln erinnert, die ich von einer studentischen Exkursion noch in Erinnerung - und auf Cassette (!) habe ...
Freilich ist es kein "Bachplenum". Das 4'-Loch ist aber auf ein erträgliches Maß reduziert. Und die drei Prinzipale 8' der Manualwerke sind in ihren Mensurvarianten sehr subtil ausintoniert, wie sich vor allem zeigt, wenn man sie solistisch oder in sparsamen Mischungen verwendet. Die akribische Arbeit mit feinsten Nuancen in mp-mf-Bereich ist offensichtlich eine Stärke des Interpreten. Da entfaltet er so richtig Ideenreichtum, Klangphantasie und seine ungemeine Musikalität.
Im langsamen Satz der Hindemith-Sonate gelang ein zum Niederknien schöner Dialog zwischen der üppigen Soloflöte und der Clarinette, die Phrasen mit den Schwellern fein herausmodelliert.
Überhaupt - Hindemith gehört auf solchen Instrumenten wieder gespielt. Die Musik gewinnt beträchtlich, wenn man sie nicht auf organistischen Seziertischen auseinanderlegt, sondern an einer Orgel spielt, die soviel "Sinnlichkeit" in den Grundstimmen verbreiten kann. Klar, der Übeaufwand für das viersätzige Werk entspricht dem eines Großwerkes der frz. Sinfonik, mit dem in puncto Publikumswirksamkeit mehr "Staat zu machen" ist. Ich habe dem Maestro hinterher ein dreifach donnerndes für diese herausragende Leistung dargebracht.
Dass der Orgel die Eignung für den barocken Stilkreis weitgehend abgeht, blieb kein Geheimnis bei Händel-Variationen im Arrangement des Interpreten. Zwar bot die Partitur einige satztechnische Subtilitäten und technische Bravourpassagen, aber es fehlten einfach die Farben: klar zeichnende 4'er und ein knackiger 2' - und sei es nur ein prickelndes Waldflötchen. Aber solche Register wären in der Ästhetik dieses Instrumentes natürlich Fremdkörper.
Einerseits schade, andererseits gut, dass Skoczoswsky die Finger von Bach ließ. Dafür gab's zwei (arrangierte) Marcias, einen von Saint-Saens (irgendwo tönten bei mir im Hinterkopf "Radetzkymarsch" und "Kaiserwalzer" mit) und den anderen von Berlioz, die "Hongroise" in der es schon etwas krawalliger zuging und in der die Tuba dann am Schluss noch mal durfte - genau zwei Töne lang - und das war auch lang genug.

Schade, dass die Folgekonzerte immer Mittwoch sind - da ist Chorprobe. Denn das ein oder andere würde ich mir gern anhören. Vor allem, ob es irgend jemand schafft, einen ordentlichen "Bach-Klang" herauszuholen. Denn auf allen Programmzetteln steht was von Basti ...

LG
Michael


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21.09.2015 09:36
#32 RE: Orgelweihe in Gießen
Ma

Tja, seit einiger Zeit gibt es immer häufiger Instrumente, die ihre Aufstellungsorte dynamisch "mehr als voll machen". Die mächtige neue Mayer-Orgel in Koblenz, St. Kastor, gehört neben Gießen wohl auch dazu. Umso wichtiger wird dort differenziertes Registrieren wie im von dir beschriebenen (Danke!) Konzert gestern Abend, eine Fähigkeit, über die wohl nicht alle Organisten gleichermaßen verfügen...

Bei solch großen Instrumenten kann man doch verschiedene Plenumregistrierungen registrieren, ohne jedesmal das Tutti bemühen zu müssen!

Ich kenne ein paar nach Deutschland importierte Engländerinnen, da ist alles sehr rund und nichts sticht raus. Auch die Plenumzungen kann man sich ohne Gehörschutz antun - gut, eine originale Tuba habe ich bis jetzt noch nicht live gespielt.

Im gelben Forum schrieb jemand, in Deutschland würde man zu Extremen neigen. Ich glaube, da ist was dran... zuerst die mulmigen Brei-Instrumente der Romantik, dann immer weiter in Richtung eines grundtonarmen, obertönigen Klanges, der Werkcharakter ging dabei über alles. Dann pseudofranzösische Orgeln mit leider oft brettharten Zungen, die nun / derzeit folgenden Pseudo-Engländerinnen geraten ebenfalls arg kräftig (kennt man so laute Orgeln in England?) und man kann froh sein, wenn man auf drei Manualen noch einen Prinzipalchor findet, der dann nicht unbedingt nachträglich ist. In meiner alten Schildknecht-Orgelschule ist noch ein Aufsatz von einem Carl Elis über die Orgel drin, der schreibt, eine Orgel sollte keinesfalls "schöne", sondern mischfähige Stimmen erhalten. Heute besetzt man von drei Manualen oft zwei mit ausgesprochenen Solisten und Charakterstimmen...

Schlägt das Pendel hier kräftiger aus als anderswo?

Gloria Concerto 350 Trend

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21.09.2015 11:31 (zuletzt bearbeitet: 01.07.2021 17:48)
#33 RE: Orgelweihe in Gießen
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Na ja, "Kraft" soll eine große Orgel ja haben. Es ist schon ziemlich nervig, in einer proppevollen Kirche an einem Instrument zu sitzen, das die Wurst nicht vom Teller zieht, sondern dünn durch die Gegend piepst. Aber wenn ich die Krawallkisten jüngerer Fertigung höre, (die lautesten kommen ja - sorry, René und Ebi - inzwischen aus Nobelschmieden in CH) beschleicht mich das Gefühl, dass die Intonateure und Interpreten jüngerer Baujahre gern "Kraft" mit "Brutalität" verwechseln - rühmliche Ausnahme: die Golline in Memmingen.
Wir scheinen mal wieder am anderen Ende der Skala angekommen: Was in den "Hochzeiten" der Orgelbewegung schrill und mager mager daherkam, wird jetzt fett und dumpf gemacht. Ich finde, dass in der Übergangszeit zwischen diesen Extremen, so in den späten 80ern und frühen 90ern, kraftvolle, körperhafte und dennoch brillante Orgeln gebaut wurden - bevor der Dezibel-Wettebwerb begann. Als man anfing, bei Orgeln mit mehr als 50 Registern mixturlose Schwellwerke zu disponieren (Osnabrück, Dom), war mir klar, wohin die Reise geht.
Zum Glück haben nicht alle diesen Blödsinn mitgemacht. Ich war kürzlich in der Stiftskirche in Stuttgart und hörte (im Gottesdienst) eine noble, leuchtende Orgel (aus der Werkstatt Mühleisen/Leonberg) - vom Titulaire ausgezeichnet gespielt. Bei der Orgelarena in Franken hörte ich ein kleines Instrument aus derselben Werkstatt mit denselben Charakteristika: wuchtig und tragfähig, aber nicht laut, hell, aber nicht grell, sondern freundlich und klar. Auch andere Werkstätten in unserem Land können bzw. konnten das, bevor man (wer "man" ist, scheint mir diskussionswürdig) "sinfonischen" Radau von ihnen verlangte.

LG
Michael


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21.09.2015 21:40
avatar  Ebi ( gelöscht )
#34 RE: Orgelweihe in Gießen
Eb
Ebi ( gelöscht )

Zitat von Wichernkantor

.... Aber wenn ich die Krawallkisten jüngerer Fertigung höre, (die lautesten kommen ja - sorry, René und Ebi - inzwischen aus Nobelschmieden in CH) beschleicht mich das Gefühl, dass die Intonateure und Interpreten jüngerer Baujahre gern "Kraft" mit "Brutalität" verwechseln - rühmliche Ausnahme: die Golline in Memmingen.
....


Keine Sorge, Michael: wer - wie du - mit so ausgeprägtem Sachverstand schreibt, kann sich ein persönliches Urteil aus meiner Sicht problemlos erlauben, auch wenn es vielleicht mal etwas "saftig" formuliert daherkommt. Sicher ist für mich indes: die hiesige Handwerkskunst ist bemerkenswert...


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21.09.2015 21:44
#35 RE: Orgelweihe in Gießen
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Moderator

Daran hege ich keinen Zweifel. Die Innenansichten der Instrumente von Kuhn, Metzler oder Goll sind eine Augenweide - die Material- und Verarbeitungsqualität ist untadelig.

LG
Michael


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