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C. Carpenter und Bach
Jesaiah
(
gelöscht
)
#1 C. Carpenter und Bach
Hallo allerseits,
gestern ist Cameron Carpenter in der Grazer Helmut-List-Halle aufgetreten. Natürlich ein Pflichttermin, zumal bei diesem Konterttitel (All you need is Bach). Technischer Aufbau: eindrucksvoll, neben der M&O- Orgel vor allem die Abstrahlung (ich frage mich, was für eine genaue Funktion die Boxen mit den "Spanischen Trompeten" haben), und Spiel unglaublich virtuos, vor allem in den Zugaben in der Klasse der besseren Youtube-Videos, die ich gesehen habe. Wow.
Nur ... ganz glücklich war ich nicht. Einerseits klingt die Orgel trotzdem elektronisch ... das mag jetzt an der Raumakustik liegen, oder an einer nicht optimalen Intonation (sprich Soundcheck), aber es war in keinem Moment so, dass ich bei geschlossenen Augen das Gefühl gehabt hätte, in einem Pfeifenkonzert zu sitzen. Dazu kamen einige Registrierungen, die regelrecht schmerzhaft waren (Von der Frequenz her - die Lautstärke insgesamt war grenzwertig, aber ging noch). Gut, um Dimensionen besser als unsere Rodgers in der Kirche, aber dennoch ... da hatte ich wohl die falsche Erwartungshaltung.
Andererseits war die Bach-"Interpretation" stellenweise mehr als frei. In letzter Konsequenz hat er die schönsten Stücke teilweise so interpretiert, dass sie in meinen Ohren "schlampig" geklungen haben, und mit völlig unnötigem Zierat überladen (hier noch ein Triller, da noch ein Slide, dort noch einige Cluster...), dass ich ein wenig befremdet war. Manchmal hatte ich das Gefühl, als hätte er sich gedacht "ich zeige euch jetzt mal, wie Bach es richtigerweise hätte machen sollen". Wahrscheinlich nicht ganz fair von mir, zumal er persönlich sehr verbindlich wirkte und immerhin vier Zugaben gegeben hat, eine davon scheinbar ungeplanterweise.
Ein schöner Anlass, um darüber nachzudenken, wo die Freiheit / Verpflichtung des Interpreten gegenüber dem Werk beginnt/endet ... und schwierig, weil natürlich immer eine Geschmacksfrage...
Was denkt ihr denn?
#2 RE: C. Carpenter und Bach
Zitat von Jesaiah im Beitrag #1
Nur ... ganz glücklich war ich nicht. Einerseits klingt die Orgel trotzdem elektronisch ... das mag jetzt an der Raumakustik liegen, oder an einer nicht optimalen Intonation (sprich Soundcheck), aber es war in keinem Moment so, dass ich bei geschlossenen Augen das Gefühl gehabt hätte, in einem Pfeifenkonzert zu sitzen.
Dabei wäre ich ebenfalls nicht glücklich geworden – aber aus einem anderen Grund. Ich brauche bei einem Orgelkonzert mit geistlicher Musik freie Sicht auf den Hochaltar, sollte der nicht mehr vorhanden sein, zumindest in einen Chorraum – ersatzweise auf den Orgelprospekt, wenn das »sitztechnisch« möglich ist. Ich finde es schon schlimm genug, wenn eine Leinwand im Kirchenraum aufgestellt wird, der Bilder des orgelspielenden Interpreten in den Kirchenraum überträgt.
Zitat von Jesaiah im Beitrag #1
Andererseits war die Bach-"Interpretation" stellenweise mehr als frei. In letzter Konsequenz hat er die schönsten Stücke teilweise so interpretiert, dass sie in meinen Ohren "schlampig" geklungen haben, und mit völlig unnötigem Zierat überladen (hier noch ein Triller, da noch ein Slide, dort noch einige Cluster...), dass ich ein wenig befremdet war. Manchmal hatte ich das Gefühl, als hätte er sich gedacht "ich zeige euch jetzt mal, wie Bach es richtigerweise hätte machen sollen".
Ich will mich gar nicht so weit aufschwingen zu urteilen, was ein Interpret darf oder zu unterlassen hat. Aber das, was du beschreibst, hätte mich sicherlich genervt.
#3 RE: C. Carpenter und Bach
Nun, das "Phänomen CC" und sein Bachspiel jenseits aller Orthodoxie waren hier schon mehrfach Gegenstände der Diskussion. Und um sich eine Meinung zu bilden, sollte man man ihn in der Tat live gehört und gesehen haben.
Fest steht: Er ist ein Ausnahmemusiker. Wer ihm das abspricht, ist m.E. kleingeistig und/oder neidisch.
Was die Orgel anbetrifft - ich vermute, sie soll gar nicht nach PO klingen. Sie ist kein Speicher für möglichst klangtreue Samples, sondern ein riesiger Synthesizer für ein Klangdesign, das exakt den Vorstellungen des Interpreten entspricht.
Die immer wieder auftretende Frage (vor allem bei Bach): Darf man das?
Dieselbe Frage müsste man z.B. auch (dem frühen) Karl Straube und seiner Schule stellen. Der spielte Bach (bis zu seiner orgelbewegten "Bekehrung" Ende der 20er Jahre) mit Schweller und Walze. Und wenn ihm das Stimmengeflecht zu dünn war, dichtete er welche hinzu. Vermutlich hat ihn nur seine 180-Grad Wende zum Historismus vor dem Totalverdikt gerettet. (NB: Auch Reger machte aus den zweistimmigen Inventionen Orgeltrios!)
Käte van Tricht hat in den späten 80ern eine CD aufgenommen mit Bach-Werken aus dem Straube-Band, so wie Straube vordem lehrte und spielte. Sie ist äußerst hörenswert. Diese Denk- und Spielweise ist das Pendant zu CCs Arbeits- und Herangehensweise an Bachs Musik. Ein Straube-Schüler - mir fällt gerade nicht, ein, wer es war (Ramin?) - sagte nach dem Siegeszug der Orgelbewegung zu Straubes Gesinnungswandel: "Heute spielen wir richtiger, aber früher spielten wir schöner ..."
Mit Verdikten war man zu allen Zeiten schnell bei der Hand. Ich entsinne mich an Günter Kaunzinger, der in den 70er Jahren eine zeitlang in den USA arbeitete und von dort mehrere Gepflogenheiten mitbrachte (u.a. eine ungemeine Virtuosität), die ihm Kollegen und Kritikusse ankreideten und ihm absprachen, "ein rechter deutscher Organist" zu sein. Das Zitat stammt wörtlich aus einer Konzertkritik. Als sich die Entrüstung über die Verstöße gegen die gerade in Europa vorherrschenden Dogmen der "reinen Lehre" gelegt hatte und sich herausstellte, dass sich seine stupende Spieltechnik hervorragend für die Darstellung franz. Orgelsinfonik eignet (man höre sich seine Widor-und Vierne-Einspielungen aus den späten 80ern beim Label "Novalis" an), regten sich die Gemüter langsam, aber stetig ab. Er wurde dann ein "rechter deutscher Orgelprofessor", der von seinen Schülern viel verlangte und ihnen viel beibrachte.
Ich denke nach wie vor, dass es grundsätzlich mehrere Wege gibt, sich Bach anzunähern. Wer behauptet, es gebe nur einen (nämlich den seinigen), ist mir zutiefst suspekt. (Solche Leute erinnern mich an den Lateinlehrer, dessen feuchter Traum darin besteht, Cicero wegen stilistischer Mängel eine Fünf zu geben. )
CCs Bach-Auffassung ist einer dieser Wege zu Bach, die "historisch informierte" Spielweise der Weg am anderen Ende der Skala. Zwischen diesen Polen kann und darf sich jeder verorten, der Bachs Musik liebt. Sich dabei zu einer "Schule" zu bekennen, ist sicher legitim. Doch man denke dabei gelegentlich an Friedrich den Großen: "Jeder nach seiner Fasson ..."
LG
Michael
Zitat von Wichernkantor im Beitrag #3
Fest steht: Er ist ein Ausnahmemusiker. Wer ihm das abspricht, ist m.E. kleingeistig und/oder neidisch.
CCs Bach-Auffassung ist einer dieser Wege zu Bach, die "historisch informierte" Spielweise der Weg am anderen Ende der Skala. Zwischen diesen Polen kann und darf sich jeder verorten, der Bachs Musik liebt. Sich dabei zu einer "Schule" zu bekennen, ist sicher legitim.
Danke für die ausführliche Antwort. Ich denke, niemand und am allerwenigsten ich bestreitet den „Ausnahmemusiker“.
Und es geht mir bei meiner Frage gar nicht um die historische Aufführungspraxis, eher um die Frage der Charakteristik des Werkes. Für mich (sic!) ist das bei Bach Klarheit...
C.C. hatte ich im Konstanzer Münster gehört und hätte mich natürlich gefreut, wenn der Künstler nicht an seiner C.C. Orgel, sondern an der Münsterorgel gespielt hätte. Aber wie gesagt ein Künstler, dem meinerseits alle Toleranz zur künstlerischen Freiheit entgegengebracht wird. Ich saß ziemlich vorne ganz bescheiden in meinem Plätzlein auf der Holzbank. Wer da kritisiert, soll es mal nachspielen.
In meinem "Plattenladen" findet man Swingle Singers, Switched on Bach, Bach Oscar Peterson, Brasilianisch oder nicht zuletzt Jaques Loussier; somit alles freie Interpretationen. Allen voran übrigens nach meinem Geschmack die Interpretation von Sarband, Fadia el-Hage und Modern String Quartett zur Arabischen Passion accoerding to J.S. Bach.
Auf meinem Orgelpult liegt gerade "Wer nur den lieben Gott läßt walten", dass ich in meiner Schülerzeit gebunden mit Ferse und Absatz lernte und heutzutage sehr viel dynamischer mit wenig Ferse spitze spiele. Da C.C. mit dem Material von Bach sein eigenes Kunstwerk schafft, verdient er meine ganze Bewunderung (darauf ist er nicht angewiesen!). Allerdings gebe ich Mark recht, dass C.C. nach meinem Empfinden eher in ein Konzertgebäude gehört, als in ein mit einem unbezahlbaren Hochaltar ausgestattetes Gotteshaus. Bach hätte vermutlich aus diesem Grunde nicht den C.C.-Künsten zugehört.
Michael
#6 RE: C. Carpenter und Bach
Womit auch die Frage tangiert wird, ob Bach in den Konzertsaal "gehört". Im Bach-Jahr 2000 habe ich ein Interview mit Helmuth Rilling geführt. Er sagte damals: "Bach ist derzeit der größte Missionar in Japan. Seine Kantaten bringen Menschen aus einer völlig anderen religiösen Vorstellungswelt dazu, sich mit den Inhalten der Bibel zu beschäftigen."
Paulus schrieb vor 2000 Jahren: "Der Glaube kommt vom Hören."
Insofern ist Bachs geistliche Musik im Konzertsaal per se Verkündigung der biblischen Botschaft in einem säkularen Umfeld.
LG
Michael
Habe CC vor etlichen Jahren anlässlich eines Forumstreffens in Korbach gehört. Mich hat sein Spiel und seine unglaubliche Virtuosität begeistert.
Im Radio hörte ich seine Bearbeitung und Interpretation von Mozarts Alla turca: Grandios und harmonisch deutlich reicher als Mozarts Original - aber interessant und schillernd.
#8 RE: C. Carpenter und Bach
Wichernkantor hat im Grundsatz bereits alles gesagt. Für die Zusammenfassung: Chapeau!
Zum ersten mal erlebte ich CC bei der Deutschlandpremiere der Infinity in Offenbach. Trotz mäßiger Werbung: die Kirche knallvoll und zu meiner großen Überraschung zu zwei Drittel mit Jugendlichen beiderlei Geschlechts. Nach dem ersten Ton (Bach g-moll Fantasie) im PP mit stramm schwebender Voix celeste war "gespannte Stille" in der bis auf den letzten Stehplatz gefüllten Kirche.
Mein erster Gedanke beim "schwebenden Sound": So was macht man doch gar nicht!... zweiter Gedanke: "... aber es klingt". Jede Stimme deutlich nachvollziehbar. Eine in diesem Konzert angewandte Interpretationsregel beim Fugenspiel: Beim Eintritt jeder neuen Stimme wurde der "Neuen" durch ein leichtes Decrescendo der anderen Stimmen, vornehm der akustische Vortritt gelassen. Auch bei Stimmen, die er eingefügt hatte. M.E. trug das eindeutig zu einer "Verklarung" des Höreindruckes bei.
CC experimentiert ja häufig mit "Neuen Klangfarben" auf seiner Touringorgel. Mit seinem Instrument will er ja gerade die Begrenzungen der PO auflösen. Seine Konzerte versteht er übrigens nicht im Sinne eines frommen Verkündigungsbeitrag. Trotzdem vermag er es, gerade mit Bachscher Musik, jugendliche Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Von einer solchen wirkmächtigen Interpretationsaussage, kann ich mir für meine Praxis nur etwas hinter die Ohren schreiben.
#9 RE: C. Carpenter und Bach
Ob der Interpret es will oder nicht: Bachs Musik ist Verkündigung. Irgendein Oberfrommer (er ist so wichtig, dass ich seinen Namen vergessen habe) hat zwar mal behauptet, man müsse fromm sein, um Bach interpretieren zu können. Das ist natürlich Blödsinn. Man läuft höchstens Gefahr, fromm zu werden (oder zumindest demütig). Selbst auf der Weltkonferenz des humanistischen Bundes ...
LG
Michael
#10 RE: C. Carpenter und Bach
Um mal auf die Ausgangsfrage zurückzukommen:
Zitat von Jesaiah im Beitrag #1
Ein schöner Anlass, um darüber nachzudenken, wo die Freiheit / Verpflichtung des Interpreten gegenüber dem Werk beginnt/endet ... und schwierig, weil natürlich immer eine Geschmacksfrage...
Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und behaupte, dass es so eine Verpflichtung nicht gibt. Der Komponist hatte beim Aufschreiben der Komposition eine bestimmte Klangvorstellung und Wirkabsicht, notiert hat er aber nur Tonhöhen und -dauern, manchmal ergänzt durch (ungefähre) Angaben zu Tempo, Lautstärke und Agogik. Was nicht aufgeschrieben ist, bleibt Gegenstand der historisch informierten Spekulation oder folgt bestimmten Hörerwartungen, deshalb ist der Begriff der Werktreue auch ein anmaßendes Konstrukt.
lat. interpretatio bedeutet 1. Übersetzung und 2. Beurteilung / Erklärung / Deutung (habe extra nochmal nachgeschaut; mein Lateinunterricht ist zu lange her… ). Interpretation im Allgemeinen bewegt sich also im Spannungsfeld zwischen übersetzen (z.B. des Notentextes in klingende Musik) und ausdeuten (der musikalischen Gedanken in einem bestimmten Kontext). Dass in der sogenannten „ernsten“ Musik Interpretation fast ausschließlich als kunstvolle Hörbarmachung von Schriftzeichen verstanden wird, ist eine Besonderheit der Kunstform. Wenn ich im Deutschunterricht die Interpretation eines Textes verlange, kommt - zum Glück - keiner meiner Schüler auf den Gedanken, dass er den Text laut vorlesen soll. Auch in der bildenden Kunst oder Architektur bedeutet (Neu-)Interpretation eines Werks oder Stils sicher nicht, einem (vermeintlichen) Original so nahe wie möglich zu kommen, sondern im Gegenteil die eigene Sicht auf das Original in einer Neuschöpfung zu vermitteln.
Meiner Meinung nach steckt die ernste konzertante Musik hier in einem Dilemma: Notentext, Hörerwartungen und der enge Interpretationsbegriff des (aussterbenden) Stammpublikums lassen dem Musiker einen geringen Spielraum, sich selbst als Interpret zu positionieren und etwas Neues anzubieten. Andererseits braucht es genau dieses Neue, um junge Hörerschichten anzusprechen und dauerhaft zu interessieren.
Deshalb habe ich große Sympathien für Interpreten, die experimentieren und bewusst Grenzen überschreiten - einen besseren Dienst kann man dem Werk in meinen Augen nicht erweisen.
LG
Christian
Ich hänge es hier mal ran: Cameron Carpenter in einem Interview bzw. einer Reportage des Zeit-Magazins (hinter Bezahlschranke) mit interessanten Informationen und Aussagen (https://www.zeit.de/zeit-magazin/2021/24...l-touring-organ).
Hier mal die Kernaussagen:
CC nimmt gerade Bachs Goldberg-Variationen auf. Carpenter unterzieht sie (laut Zeit-Artikel) einer "Hormonbehandlung". [...] "Die Stücke verlieren an Lauterkeit und Strenge, sie verlieren ihre Unschuld, gewinnen aber an Gewalt und Dramatik."
Allgemeine Aussagen Carpenters: Die Idee, dass ein Instrument eine Seele hat, ist Quatsch. Er läd Latry (seinen musikalischen Erzfeind) ein, auf seiner Digitalorgel zu spielen. Orgeln gab es vor dem Christentum - sie waren sündhaft, haben dies aber verloren. Er würde in der Leipziger Thomaskirche keine sündhafte Musik spielen (z.B. Tango). Er ist Autist. Er performt auf der Bühne eine Figur, die er privat nicht ist. Bei seinen Auftritten riskiert und experimentiert er viel, der Auftritt ist flüchtig, kommt so niemals wieder. Er liefert als Entertainer das Ergebnis, was das Publikum hören möchte und wofür es bezahlt.
Infos zu seiner Orgel: Kosten 1,6 Mio € (abbezahlt), 1000 Terabyte Speicherplatz für die Klänge.
Habe Carpenter ein einziges Mal live gehört, aber viele Male auf diversen Medien.
Soweit ich die Stücke kannte, die er darbot, würde ich seine Interpretationen klassischer Literatur eher im Sinne einer "modernen Inszenierung" einer alten Oper sehen: Für die Einen anstößig und unannehmbar, für die Anderen innovativ und genial.
Oder - vielleicht Carpenter Unrecht tuend - ein Spiel "nach einer Idee/Vorlage von J.S.Bach" (oder wem auch immer).
Für mich klangen Carpenters Interpretationen jederzeit hochspannend und in ihrer Unkonventionalität auch höchst erfrischend.
Erster Gedanke: "Was war das...?" Zweiter Gedanke: "Und warum eigentlich nicht!"
Ich habe Carpenter zweimal live gehört - beide Male noch auf einer Pfeifenorgel (München-Philharmonie, Stuttgart-Liederhalle). Ist also schon lange her.
Ja, über Carpenter kann man streiten. Er tut der Bekanntheit des Instruments Orgel aber unstrittig gut, denn er erschließt Hörerkreise über die Kirchen hinaus. Allein das ist ein großer Verdienst von ihm.
Auch musikalisch finde ich seine experimentelle Herangehensweise erfrischend anders und damit bereichernd. Eine historisch korrekte Interpretation strebt er ja auch gar nicht an.
Mir gefällt manches, manches nicht. Für die Qualität seiner Konzerte spricht aber, dass ich nach jedem Konzertbesuch versucht habe, einige Stücke mal anders zu registrieren. Gerade bei Bach gibt es z.B. bei den Präludien doch viele Möglichkeiten der Registrierung jenseits des üblichen Prinzipalchores (im Pedal zzgl. 16' und 8' Zunge) vom ersten bis zum letzten Takt.
Zitat von Wichernkantor im Beitrag #3
Nun, das "Phänomen CC" und sein Bachspiel jenseits aller Orthodoxie waren hier schon mehrfach Gegenstände der Diskussion. Und um sich eine Meinung zu bilden, sollte man man ihn in der Tat live gehört und gesehen haben.
Fest steht: Er ist ein Ausnahmemusiker. Wer ihm das abspricht, ist m.E. kleingeistig und/oder neidisch.
Was die Orgel anbetrifft - ich vermute, sie soll gar nicht nach PO klingen. Sie ist kein Speicher für möglichst klangtreue Samples, sondern ein riesiger Synthesizer für ein Klangdesign, das exakt den Vorstellungen des Interpreten entspricht.
Die immer wieder auftretende Frage (vor allem bei Bach): Darf man das?
Dieselbe Frage müsste man z.B. auch (dem frühen) Karl Straube und seiner Schule stellen. Der spielte Bach (bis zu seiner orgelbewegten "Bekehrung" Ende der 20er Jahre) mit Schweller und Walze. Und wenn ihm das Stimmengeflecht zu dünn war, dichtete er welche hinzu. Vermutlich hat ihn nur seine 180-Grad Wende zum Historismus vor dem Totalverdikt gerettet. (NB: Auch Reger machte aus den zweistimmigen Inventionen Orgeltrios!)
Käte van Tricht hat in den späten 80ern eine CD aufgenommen mit Bach-Werken aus dem Straube-Band, so wie Straube vordem lehrte und spielte. Sie ist äußerst hörenswert. Diese Denk- und Spielweise ist das Pendant zu CCs Arbeits- und Herangehensweise an Bachs Musik. Ein Straube-Schüler - mir fällt gerade nicht, ein, wer es war (Ramin?) - sagte nach dem Siegeszug der Orgelbewegung zu Straubes Gesinnungswandel: "Heute spielen wir richtiger, aber früher spielten wir schöner ..."
Mit Verdikten war man zu allen Zeiten schnell bei der Hand. Ich entsinne mich an Günter Kaunzinger, der in den 70er Jahren eine zeitlang in den USA arbeitete und von dort mehrere Gepflogenheiten mitbrachte (u.a. eine ungemeine Virtuosität), die ihm Kollegen und Kritikusse ankreideten und ihm absprachen, "ein rechter deutscher Organist" zu sein. Das Zitat stammt wörtlich aus einer Konzertkritik. Als sich die Entrüstung über die Verstöße gegen die gerade in Europa vorherrschenden Dogmen der "reinen Lehre" gelegt hatte und sich herausstellte, dass sich seine stupende Spieltechnik hervorragend für die Darstellung franz. Orgelsinfonik eignet (man höre sich seine Widor-und Vierne-Einspielungen aus den späten 80ern beim Label "Novalis" an), regten sich die Gemüter langsam, aber stetig ab. Er wurde dann ein "rechter deutscher Orgelprofessor", der von seinen Schülern viel verlangte und ihnen viel beibrachte.
Ich denke nach wie vor, dass es grundsätzlich mehrere Wege gibt, sich Bach anzunähern. Wer behauptet, es gebe nur einen (nämlich den seinigen), ist mir zutiefst suspekt. (Solche Leute erinnern mich an den Lateinlehrer, dessen feuchter Traum darin besteht, Cicero wegen stilistischer Mängel eine Fünf zu geben. )
CCs Bach-Auffassung ist einer dieser Wege zu Bach, die "historisch informierte" Spielweise der Weg am anderen Ende der Skala. Zwischen diesen Polen kann und darf sich jeder verorten, der Bachs Musik liebt. Sich dabei zu einer "Schule" zu bekennen, ist sicher legitim. Doch man denke dabei gelegentlich an Friedrich den Großen: "Jeder nach seiner Fasson ..."
LG
Michael
Michael,
I totally agree with what you wrote!
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