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Eine feine friesische Landorgel
#1 Eine feine friesische Landorgel
Wir haben gerade eine Woche lang an der Nordsee geurlaubt und hatten unser Quartier nahe bei Carolinensiel, gleich hinter dem Deich. Rein „zufälligerweise“ betreibt unser Mitforist Wohli dort sein Metier und sitzt quasi als Made im Speck eines bedeutenden historischen Orgelbestandes. Wohli hatte mir freundlicher Weise einen Prachtband mit den herausragenden Orgeldenkmälern der Region geliehen, den ich allabendlich auf sonniger Terrasse in Reichweite eines wohltemperierten Rieslings genossen habe.
Die Besichtigung und Betastung der Orgel in Carolinensiel lag im doppelten Wortsinn nahe, auch weil sie für die Landkirchen der Region prototypisch ist.
Sie hat mit einigen Klischees, die auch ich in meinen Orgelsäuglings-Jahren über die gemeine Barockorgel Frieslands hatte, gründlich aufgeräumt. Alsda waren:
1.) Die Barockorgel der Region hat ein eigenständiges Pedal mit mindestens C-f1 Umfang.
Weit gefehlt. Umfangreich disponierte Pedale hatten nur die Orgeln in den großen Stadtkirchen. Auf dem Lande ist – ausweislich der Dokumentation aus Wohlis Bibliothek – das Pedal bestenfalls angehängt und geht über zwei Oktaven. So auch hier in Carolinensiel.
2.) Die Barockorgeln Ostfrieslands sind steil disponiert und die Mixturen und Aliquoten hauen ganz schön auf den Putz.
Noch weiter gefehlt. In Carolinensiel hat bei zwölf Registern lediglich das Hauptwerk eine vierfache Mixtur. Und da dieses Werk keinen freien 2‘ hat, beginnt sie auf C mit dieser Fußlage und lässt selbige über drei Oktaven durchlaufen. Dann springt dieser Chor heftig in den 4‘ und ab f2 sogar in den 5 1/3 – alles eher nobel und zurückhaltend, wenngleich raumfüllend.
Die „Klangkrone“ des Oberwerkes besteht aus einer (ausgesprochen hübschen) Waldflöte 2‘. Weitere Besonderheiten einer Disposition auf II/12: Beide Werke haben eine Quinte 2 2/3‘. Der Nassard in II war im Rahmen eines „Neobarockisierungs-Versuches“ anno 1978 bis zur jüngsten Restaurierung in 2005 auf einen 1 1/3‘ umgestellt, außerdem hatte man diesem Werk in bester Absicht einen Sesquialter spendiert, der dann wieder entfernt wurde.
Noch bemerkenswerter: Jedes Werk hat eine eigene Zunge. Das Hw eine Trompete 8‘ in Bass/Diskant-Teilung (!), das Ow einen Dulzian. Die Trompete ist im Bass eher „fagottig“ ausgefallen, bauartbedingt wird sie oben auch nicht besonders laut. Und das passt so. Der Dulzian singt fein und herb. Auffällig: Beide Register waren bei bester Stimmung.
Der Erbauer, Hinrich Just Müller aus dem benachbarten Wittmund, konnte 1781 wohl sicher sein, dass eine regelmäßige Stimmung der Orgel stattfand.
Kaputtgehen kann an einem solchen Instrument eigentlich nichts. Es gibt keine Manualkoppel, das Pedal koppelt über eigene Ventile direkt in die Hw-Windlade. Der Tremulant wirkt auf das ganze Werk.
Um die erforderliche Gravität zu erzielen, disponierte der Wittmunder Meister (der in der Gegend wohl der „Platzhirsch“ war) einen Bourdon 16‘ im Hw – und das bei 12 Registern …
Ich mag 16’er im Manualpart nur dann, wenn sie diskret bleiben und nicht mulmen. In dieser Orgel hat der Manual-16‘ ja die Aufgabe, Pedal „vorzutäuschen“. Also hat ihn der Orgelbauer in den beiden tiefen Oktaven durchaus saftig gemacht. In der Hauptmelodielage darf er den Klang nicht klebrig machen. Ergo ist er zwischen c1 und e2 stark zurückgenommen. In der Höhe muss er runden, folglich wächst er ab f2 wieder deutlich an. Mit den Prinzipalen 8‘ und 4‘ entsteht so ein einerseits gravitätisches, andererseits verblüffend klares Klangbild, um den Gemeindegesang zu tragen. Zu meinem großen Erstaunen ist auch das Plenum alles andere als „dick“. Der 1’-Chor der Mixtur ist von C bis g0 deutlich herausgearbeitet. Beim Spiel polyphoner Literatur klärt er Themendurchführungen im Bass.
Erstaunlich, wie viel klangliche Vielfalt diese kleine Orgel bietet. Als ich mit den Farben etwas vertraut war, wurde die Kirche (leider) zur Besichtigung geöffnet, so dass sich Aufnahmen verbaten. Einer der Besucher wollte mir seine Halbbildung vorführen und unbedingt „die“ Toccata von Widor hören – auf Manualumfang C-c3 mit zwei angehängten Pedaloktaven …
Als ich ihm erklärte, warum das beim besten Willen nicht gehe, meinte er, er kenne wirklich gute Organisten, die holten „die“ Toccata aus jeder Orgel. Worauf ich ihn gebeten habe, mit einem dieser Wundertiere vorbeizukommen und mich vorher anzurufen. Denn das würde ich sehr gerne hören. Darauf schwieg er pikiert. Das Beste, was er tun konnte …
Die nette Pfarrerin dort hat mich gleich für eine Trauerfeier dienstverpflichtet. Leider ohne Gemeindegesang. Ich hätte zu gern ausprobiert, wie sich das Instrument beim Gemeindebegleiten schlägt.
Hinterher habe ich mich gefragt, was man auf einer solchen Orgel überhaupt an Literatur angemessen spielen kann. Und mir wurde klar, dass Buxtehude seine Manualiter-Präludien, Fugen und Canzonen weniger für irgendein Piepspositiv, sondern für solche wuchtigen Landorgeln ohne Pedal gedacht haben könnte. Diese herrlichen Stücke werden ja weithin gemieden, denn zu einem „richtigen“ Buxtehude gehören landläufig nun mal ein ausgedehntes Pedalsolo und knackige Posaunenbässe.
Ich werde in den nächsten Tagen mal auf meiner "Intonierlade", dem CM 100, die Rekonstruktion des Carolinensieler Borduns versuchen und damit ein paar Manualiter-Buxtehudes probieren.
Im Kopf entsteht gerade ein Programm, mit dem man diese Orgel angemessen präsentieren könnte ( einschließlich ausgewählter Piècen aus den "Heures mystiques" und Francks "L'organiste"). Mal sehen - vielleicht wird's ja was. Den Weg kenne ich jetzt ja.
Die letzte Sanierung der schönen Orgel in Carolinensiel anno 2005 wäre um ein Haar wirklich die letzte gewesen. Denn als die Orgel zerlegt in einer renommierten Werkstatt der Region lagerte, ging die Firma in Konkurs. Zwei Jahre musste die Gemeinde warten, bis sie aus der Konkursmasse ihre Orgel zurückbekam – vom Werkstattnachfolger sorgfältig restauriert.
Hier noch ein paar Bilder:
https://www.dropbox.com/s/42xf2wyjas2qod...spekt.jpeg?dl=0
https://www.dropbox.com/s/nb3qgdzf65qhii...hrank.jpeg?dl=0
https://www.dropbox.com/s/7t1q57svl3wfzk...links.jpeg?dl=0
https://www.dropbox.com/s/9jzc191gqqjm0k...echts.jpeg?dl=0
Und hier noch ein "Special": Auf Wunsch der "Artists in residence" wurde über den Halbtontasten dieses schmucke Brett zum Abstellen der Füße angebracht:
https://www.dropbox.com/s/laoboac2x0c7rw...pedal.jpeg?dl=0
Es ist garantiert nicht historisch. Dafür verhindert es zuverlässig ein sauberes Pedalspiel. Denn man muss mit der Fußspitze von hinten untertauchen, um (aus der Sitzposition unsichtbare) Halbtöne zu erwischen. Dafür ist die - wiederum historische - Pedalteilung der Ganztöne so gewählt, dass man sie mit Gummistiefeln jenseits Größe 50 noch trifft.
Als die Pfarrerin mich fragte, worauf der Orgelbauer bei seinem nächsten Besuch achten solle, bat ich sie, das Brett absägen zu lassen ...
LG
Michael
#2 RE: Eine feine friesische Landorgel
Sieht nach einem wirklich feinen Instrument aus! Danke Dir Michael, für den Erlebnisbericht - auch ohne Widor ;-) Immer wieder spannend, wieviel Schatzkästchen irgendwo „verborgen“ liegen!
Und auf der Orgel ist auch das Nachwuchsproblem von Organisten gelöst. Die Beschriftung der Register ist so gross, dass man auch halbblind mit 85 Jahren noch die Richtigen (s)zieht ...
Lieben Gruss
Stephan
Cavaille-Coll St. Sernin / Toulouse - oder so was in der Richtung... ;-)
Gloria Concerto 469 CC - 2021
www.orgelmusik-kelkheim.de
#3 RE: Eine feine friesische Landorgel
Zitat von Frankfudde_Bub im Beitrag #2
Und auf der Orgel ist auch das Nachwuchsproblem von Organisten gelöst. Die Beschriftung der Register ist so gross, dass man auch halbblind mit 85 Jahren noch die Richtigen (s)zieht ...
Hm, ja, kommt wohl hin, wenn ich die zaghaften Andeutungen der Pfarrerin (und Wohlis) richtig interpretiert habe ...
LG
Michael
#4 RE: Eine feine friesische Landorgel
Danke dir, Michael -
habe selten eine so liebevolle Beschreibung gelesen!
@ albernes Brett: Das Ding hat mich schwer genervt, als wir die Orgel 2006-2008 konzertant nutzten. Aber der reguläre "Organistenbestand" muss seine Füße ja irgendwo lassen ... Da ist oft bereits das zweite Manual schon sinnlos ...
@ Franck & Boellmann: das geht wirklich gut darauf. Haben da sogar Langlais Missa in simplicata und Dvoraks Biblische Lieder op. 99 gemacht .... Und was toll geht: Rinck in alles Varianten ...
Hier gab's übrigens schon mal einen Faden:
RE: Orgel Carolinensiel
#5 RE: Eine feine friesische Landorgel
Jo, Rinck ist natürlich eine Lösung. Da geht eine Menge aus dem "Choralfreund". Aber ich könnte mir auch einige "Basse-de-cromorne"-Piècen oder "Récits de Nazard" (con Tremolo) aus der altfranzösischen Schule vorstellen. Auch eine "grand jeu"-Mischung lässt sich trefflich registrieren.
Und da jedes Register eine eigene Qualität hat, würde ich auf die manualiter-Partiten Bachs reflektieren (z.B. "O Gott, Du frommer Gott").
LG
Michael
#6 RE: Eine feine friesische Landorgel
#7 RE: Eine feine friesische Landorgel
Zitat von clemens-cgn im Beitrag #6
Sind die Prospektpfeifen gar noch historisch?
Nö, der Hochglanz kommt von Hillebrand aus 1978, wenn ich das richtig gelesen habe. Prospektprinzipale mit hohem Blei-Anteil waren in der Region durchaus üblich. Das senkte die Kosten. Hochwertigere Legierungen wanderten 1917 ohnehin in den Schmelzkessel und wurden durch Gießkannenblech ersetzt.
Zitat von clemens-cgn im Beitrag #6
Evtl. ließe sich mit dem Fußbrett eine Schlüssellocheinhängung realisieren?
Wozu denn? Gegen Defizite im Pedalspiel gibt es ein geheimes Mittel: Üben ...
LG
Michael
#8 RE: Eine feine friesische Landorgel
#9 RE: Eine feine friesische Landorgel
Zitat von Wichernkantor im Beitrag #7Zitat von clemens-cgn im Beitrag #6
Sind die Prospektpfeifen gar noch historisch?
Nö, der Hochglanz kommt von Hillebrand aus 1978, wenn ich das richtig gelesen habe. Prospektprinzipale mit hohem Blei-Anteil waren in der Region durchaus üblich. Das senkte die Kosten. Hochwertigere Legierungen wanderten 1917 ohnehin in den Schmelzkessel und wurden durch Gießkannenblech ersetzt.
Laut der Orgelgeschichte bei Nomine sind die Prospektpfeifen des Principal 8 im Hauptwerk teilweise original und teilweise bei der letzten Restaurierung rekonstruiert worden, die des Principal 4 im Oberwerk hingegen gänzlich original.
In "Orgellandschaft Ostfriesland" von 1997, also lange vor der letzten Restaurierung erschienen, heißt es im Text
Zitat
Einen ungewöhnlichen Anblick bieten die nicht mit Zinnfolie überzogenen, dunklen Bleipfeifen im Kontrast zu der weißen Farbfassung des Gehäuses
sowie in der Bildunterschrift
Zitat
Die dunklen Prospektpfeifen, die ursprünglich mit Zinnfolie belegt waren, bilden jetzt einen großen Kontrast mit zu der hellen Farbfassung.
Viele Grüße
Trompetendulzian
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