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Musik in amerikanischen Freikirchen
Ob Toupet-Vorschrift hin oder her. Es ist symptomatisch für die Vorspiegelung einer "heilen" Welt, die für mich nicht über eine Haarpracht definiert ist, sondern eher über die Begriffe Akzeptanz und Respekt. Frederick Swan sah ich zum letzten Mal persönlich 2016 als er immer noch dieses Teil trug. Mittlerweile hat er es ja - Fotos zufolge - abgelegt.
"Dieses alberne Ding" (aus dem Klassiker "Eine Leiche zum Dessert")
Orgelkater
(
gelöscht
)
#18 RE:Musik in amerikanischen Freikirchen
Das ist schwer zu sagen. Es mag sein, dass er trotz der frisch errungenen Freiheit das Toupet aus marktstrategischen Gründen weitertrug, es mag auch sein, dass er sich einfach daran gewöhnt hatte.
Haarverlust ist in den allermeisten Fällen eine Entwicklung über einen längeren Zeitraum, einmal ausgenommen z.B. der Verlust bei einer Chemotherapie, nach dem sich viele Patienten*innen eine Perücke besorgen. Dies hat dann aber mehr psychische Gründe.
Swan habe ich eigentlich als einen durchaus selbstbewußten, aber nicht eitlen Menschen kennen gelernt. Eine diesbezügliche Motivation würde ich bei ihm nicht vermuten.
Aber eigentlich sind Toupets ja nicht das eigentliche Thema hier, es sei denn wir wollten Rosshaar bei der Rieger-Orgel in Martin, Kassel, thematisieren ...
Beste Grüße
Lieber admin, dass ein Thema sich OT entwickelt, finde ich ok. Nur hat das mit Weihnachten überhaupt nichts zu tun. Für mich gehört das klar in die Plauderecke in einen sep. (wichtigen Beitrag).
Ich finde das Thema wertvoll, habe ich doch als Organist selber ähnliche negative musikalische Situationen erlebt, wo die inkompetente "Geistlichkeit" ohne Rücksicht auf Verluste - musikalische Entwicklungen torpedierte, bis die kompetenten MusikerInnen "das Handtuch warfen". Resultat: eine musikalische Verarmung. Solches möchte ich nie mehr erleben...
Solches scheint leider auch heute noch zu existieren...
LG
Martin
#22 RE: RE:Musik in amerikanischen Freikirchen
#23 RE: RE:Musik in amerikanischen Freikirchen
Um den Faden wieder aufzugreifen:
Hier im Raum Wetzlar/Gießen/Marburg (und dann wieder weiter nördlich in der Gegend um Siegen) gibt es eine ausgesprochen vielgestaltige Freikirchen-Szene mit ebenso differenzierter Musizierpraxis.
Wie es dazu kam, erfordert einen kleinen Exkurs - wen's nicht interessiert, einfach nicht weiterlesen ...
In der zweiten Hälfte des 19. Jh. gab es in dieser Region, die seit der Reformation von einem volkskirchlichen Protestantismus geprägt ist, eine "Erweckungsbewegung", einen geistlichen Aufbruch. Im deutschen Pietismus des 18. Jh. wurzelnd, bildeten sich sog. "Landeskirchliche Gemeinschaften" mit dem Ziel einer persönlichen Gottesbeziehung und einer an der Bibel ausgerichteten Lebenspraxis. Dies Gemeinschaften verstanden sich explizit als Ergänzung zu den lokalen Kirchengemeinden, nicht als "Konkurrenz".
Als wir vor 25 Jahren in diese Gegend zogen, wohnten wir direkt gegenüber dem "Gemeinschaftshaus" hier im Nachbarort. Die älteren Gemeinschafts-Mitglieder gingen selbstverständlich Sonntag früh in den Gottesdienst der ev. Kirchengemeinde und am dann Abend in die "Gemeinschaftsstunde", in denen es eine inhaltliche Vertiefung (Ergänzung bzw. "Korrektur") zum Sonntagsevangelium gab. In der Woche fanden Bibelkränzchen (meine Frau leitet bis heute eines) und Gebetszeiten statt.
Vor allem im ländlichen Raum haben diese Gemeinschaften eine enge Ortsbindung, große Familien gehören ihnen seit mehreren Generationen an, sind vielfältig miteinander versippt und verschwägert und die Mitgliederzahl entspricht oft der der größten Ortsvereine wie Feuerwehr oder Sportverein.
In den größeren Wohndörfern rund um die Oberzentren waren und sind diese Gemeinden auch für Zugezogene attraktiv, denn sie bieten eine Einbindung in ein reiches, gut funktionierendes und von einem Klima der Freundlichkeit getragenes soziales Netzwerk. Vor allem Studenten und/oder junge Akademiker-Familien, die über keine lokale Beziehung und keine Bindung an die Kirchengemeinde verfügen, wurden Mitglieder in den Gemeinschaften. Sie veränderten nicht nur das Sozialgefüge, sondern auch die Gottesdienstkultur.
(Ich kann die Vorgänge hier nur exemplarisch schildern, sie verliefen und verlaufen in denkbar größter Differenzierung und haben die unterschiedlichsten Gemeindestrukturen geschaffen.)
Am Anfang einer Absetzbewegung von der lokalen Kirchengemeinde standen oft Beschlüsse, die "Gemeinschaftsstunde" - zumindest an jedem 2. Sonntag - auf den Vormittag zu legen. Begründung: Das komme den jungen Familien entgegen, die dann den Rest des Tages frei verplanen könnten. Die gingen ja ohnehin nicht in die Landeskirche. Irgendwann setzte sich dann die Mehrheitsmeinung durch, es gehe ja kaum noch jemand in die Kirche, dann könne man genauso gut beim Vormittag bleiben.
In unserem Wohnort befindet sich die Gemeinschaft noch in der ersten Phase dieser Entwicklung, andernorts bereits in Phase zwei bzw. in der dritten Phase, in der dann eine eigene "Freie Ev. Gemeinde" gegründet wird, die sich von der Landeskirche bewusst absetzt - oft ausgelöst durch persönliche Differenzen zwischen den Protagonisten, sprich: Pfarrer und Gemeinschaftsleiter. Auch dafür gibt es in meinem Umfeld etliche Belege.
Welche Auswirkungen hat das nun auf die Musizierpraxis?
Die Gemeinschaften pflegten durchgängig einen konservativen, bisweilen betulichen Musikstil. Im Gemeindesaal stand ein Klavier oder Harmonium, auf dem die traditionellen Choräle begleitet wurden, ergänzend gab es Liederbücher mit "Erweckungsliedern", deren Stil von der "Pietistenschnulze" ("So nimm denn meine Hände", "Näher, mein Gott, zu Dir", "Stern, auf den ich schaue" etc.) bis hin zu "NGL" aus den 30er Jahren reichte.
Da die Region eine ausgeprägte "Sängergegend" ist, hatten viele Gemeinschaften einen Chor. Ich selber habe im vorigen Jahrtausend fünf Jahre lang einen solchen Chor geleitet. Er zählte damals mehr als 40 Köpfe und mit ihm konnte man sehr gut arbeiten. Es gab auch regelmäßige Chortreffen und Konzerte. Das Repertoire bestand aus prot. Motetten aller Stilepochen, vornehmlich über biblische Texte. Das Selbstverständnis dieser Chöre schloß einen Verkündigungsauftrag ein - Gottes Wort in Tönen. Also nix Denglisch, nix Gospel, nix Mikrophon, nix Regenbogenschal und nix Schunkel-Einlagen.
Gab es in diesen Gemeinden oft qualifizierte, wenngleich konservative Theologen (die zugleich mitreißende und lebensnahe Prediger waren), erlebte die Praxis der Verkündigung eine erschreckende Simplifizierung. Beeinflusst von den "Erfolgen" amerikanischer Mega-Churches lautete die Devise: Das Evangelium muss vereinfacht werden, damit wir mehr Leute erreichen. Die Gemeindeleitungen erlagen also der gleichen Versuchung wie manche Landeskirchen, die glaubten, man müsse möglichst viel Niederschwelliges anbieten, um "volle Kirchen" zu bekommen.
Aus Wort und Musik wurden Show und Entertainment.
(Ich weiß, dass ich damit selber vereinfache, aber ich kann die Entwicklung nur skizzenhaft andeuten. Um sie differenzierter darzustellen, wäre - zumindest, was den Umfang betrifft - eine Dissertation erforderlich ...)
Es gründeten sich Bands, Singeteams, etc. die bald auch aus dem Fundus US-amerikanischer Freikirchen schöpften.
Dann fegte um die Jahrtausendwende der Gospelchor-Flächenbrand über die Dörfer. Mittlerweile sind die meisten dieser Chöre sang- und klanglos verschwunden. Sie haben - wie ich es vor 20 Jahren prognostizierte - verbrannte Erde hinterlassen. Nur selten gelingt es, an die ehemals vorhandene Chorkultur anzuknüpfen und sie neu zu beleben. An ihre Stelle tritt nun auch in vielen ev. Kirchengemeinden im hiesigen ländlichen Raum der Digitalpianierer, der sich sonntags vor zwei Dutzend älterer Damen durch NGL-Repertoire hackt, das keiner mitsingt. Kirchenmusikalischer Kleinst-Minimalismus. Da sind dann auch mal als "Vorspiel" Richard Claydermans "Ballade pour Adeline" oder Beethovens "Elise" zu hören ...
Mit der Preisgabe des Verkündigungsauftrages bekam die Musik einen "Bekenntnisauftrag". Es entstand der - ebenfalls aus den USA importierte - "Lobpreis", der in vielen Gemeinschaften und fast allen Freikirchen inzwischen ein "liturgisches Element" geworden ist.
Es werden in bunter folge vier oder fünf Stücke aneinandergereiht, deren theologischer Gehalt sich im Satz "Make the (american) Lord great again" zusammenfassen lässt. Da tönt es auf mittelhessisch eingefärbtem Englisch in Endlosschleife durch Gemeindehäuser: "Dschiehsass iss de aaaanssser". (Sorry, dass mir da der Polemik-Gaul durchgeht. Meine Ohren haben zuviel Qualen gelitten ...)
Während NGL deutscher Produktion bisweilen erhebliche textliche Qualität haben (ich denke da z.B. an Manfred Siebald, der ja Prof. für Amerikanistik an der Uni Mainz war), sind die US-Texte und ihre deutschen Übersetzungsversuche oft ein Ausbund an inhaltlicher Dürftigkeit.
Spirituelles "fast food" in der Predigt, musikalisches "fast food" in der Musik. Dass diese "Kultur" Leute anzieht, ist offensichtlich. Aber - macht "fast food" auf Dauer satt?
Damit will ich es vorerst mal bewenden lassen. Natürlich wäre es noch interessant, die beiden großen Entwicklungslinien der Freikirchen-Szene etwas zu differenzieren: Fundamentalistischen Biblizismus am einen, Charismatik am anderen Ende einer Skala mit gefühlten tausend Zwischenstufen.
Aber das sprengt gerade mein Zeitbudget. Meine Orgel blickt mich vorwurfsvoll an und der Kater der Nachbarn liegt erwartungsvoll auf meinem Arbeitszimmersofa und erwartet sein allmorgendliches Privatkonzert ...
LG und ein coronafreies Wochenende
Michael
@Wichernkantor
Guten Abend,
Du hattest angeboten, eine Literaturliste zu erstellen, darauf würde ich gerne zurückkommen, denn als Theologie und SoWi-Student interessiert mich das Thema ebenfalls sehr. Es muss zwar keine Liste sein, aber eine Empfehlung für ein gutes Einführungs- und Übersichtswerk würde mich freuen.
Viele Grüße,
Max
Wenn wir nun schon von den USA nach Deutschland bzw. Europa gewechselt haben, darf ich gleich anmerken, dass „Sacro-Pop“ im deutschen Sprachraum an katholischen wie an evangelischen Radiostationen als „Musik für Zwischendurch“ gesendet wird; das scheint dem Geschmack der jeweiligen Publika zu entsprechen und wird nach meiner Beobachtung auch sehr oft bei Hörergrußsendungen explizit verlangt - auch von den älteren Hörern. Eine seltsame, beinahe schon ökumenische Einmütigkeit von so unterschiedlichen Sendern wie Radio Maria und ERF.
Die nichtssagenden Texte, die Michael immer wieder kritisiert, gibt es auch in den deutschsprachigen Ablegern der zuerst nur englischsprachigen Lobpreislieder: Reimen tut sich schon seit Jahren nichts mehr, dafür werden biblische Aussagen - bunt gemischt aus AT und NT und natürlich ihrer Kontexte entkleidet - ohne inneren Bezug aneinandergereiht. Manchmal mutet so ein Lied wie eine ungeordnete Litanei an - oder wie freies Brainstorming zum Thema „Jesus“.
Leider habe ich gerade kein Textbeispiel zur Hand - aber ich verspreche, beim nächsten Mal meine Ohren zu spitzen, wenn mir derlei wieder unterkommt.
Einmal mehr sei Leuten wie Johannes Jourdan oder Klaus Heizmann gedankt, die in niveauvoller Weise zu dichten und zu komponieren verstehen.
#26 RE: RE:Musik in amerikanischen Freikirchen
Zitat von Gemshorn im Beitrag #25
Einmal mehr sei Leuten wie Johannes Jourdan oder Klaus Heizmann gedankt, die in niveauvoller Weise zu dichten und zu komponieren verstehen
Jo, und in diese Riege gehört auch unbedingt der vorerwähnte Manfred Siebald.
Zitat von Gemshorn im Beitrag #25
Leider habe ich gerade kein Textbeispiel zur Hand - aber ich verspreche, beim nächsten Mal meine Ohren zu spitzen, wenn mir derlei wieder unterkommt.
Das ist auch sehr schwierig. Denn längst gibt es in der Szene kaum noch Gedrucktes. Die Texte werden in den Gottesdiensten per Beamer an die Wand projiziert. Nach Noten singen ist eh' zwecklos, weil jede Gemeinde sich vom sinnfreien Synkopen-Gehüpfe ihre eigene Lokalfassung erstellt und die Mädels, die im zur Bühne mutierten Altarbereich an den Mikrophonen lutschen, eh vom Schlagzeuger in Grund und Boden niedergeklopft werden ...
Auch wenn es übertrieben wirkt: Alles live erlebt.
LG
Michael
#27 RE: RE:Musik in amerikanischen Freikirchen
#28 RE: RE:Musik in amerikanischen Freikirchen
Na ja, die Freikirchen haben nie Wert darauf gelegt, hauptamtlichen Kirchenmusikern Einkommen und Auskommen zu bieten.
Ich habe die Chorarbeit in der Landeskirchlichen Gemeinschaft für lau gemacht. Mit dem Chor ließ sich wunderbar arbeiten. Und man konnte die gesamte a-capella-Literatur machen zwischen Schütz und Distler. In fünf Jahren haben wir schöne Gottesdienste mit genuiner protestantischer Kirchenmusik gestaltet. Als ich damals an die Wichernkirche ging, habe ich den Chor aufgegeben - zwei Jahre später wurde die Chorarbeit in der Gemeinde eingestellt. Man wollte die Kräfte bündeln für den Erweiterungsbau des Gemeinschaftshauses ... sagte man jedenfalls.
Einem kurzzeitig florierenden Kinderchor hat dann eine Dilettantin das Mikrophonlutschen beigebracht ...
Aber auch das ist schon Geschichte. Die Gospelchor-Welle ging an dieser Gemeinde vorüber.
Ich denke mir immer: Alles hat seine Zeit.
Die "verbrannte Erde" bietet auch Chancen. Ich habe vor, in meiner jetzigen Gemeinde mit der Chorarbeit völlig neu anzufangen. Dort nimmt seit Jahrzehnten der lokale Gesangverein (wenigstens an Weihnachten) die Kirchenchor-Funktion wahr - die klanglichen Ergebnisse habe ich anderswo ja beschrieben. Literaturauswahl: Kitsch as Kitsch can. Aufführungsqualität: unterirdisch.
Ich bin der Meinung, dass eine Kleinstadt mit 5T Ew. einen eigenen Kirchenchor haben sollte. Und mit dieser Meinung stehe ich nicht allein. Sobald die Pfarrstelle neu besetzt ist, will ich da initiativ werden.
Ich habe ein gutes Gefühl bei der Chorsache. Immerhin habe ich der Gemeinde klar gemacht, dass die Orgel ein wertvolles Kulturdenkmal von hohem Gebrauchswert ist. Darauf, dass sie eine besonders schöne alte Orgel haben, die mit Engagement gespielt wird, sind sie klammheimlich schon stolz. Aber da geht noch mehr.
LG
Michael
#29 RE: RE:Musik in amerikanischen Freikirchen
Beim Nachsinnen über die Freikirchen-Szene in der hiesigen Region ist ein Aspekt unbeachtet geblieben, den ich im Folgenden etwas beleuchten möchte: Gemeindegründungen, die auf der langjährigen Präsenz der US Army beruhen.
Zwischen Frankfurt und Marburg gab es bis 1994 in allen Städten große US-Garnisonen, in unmittelbarer Umgebung meines Wohnortes vor allem in Butzbach, Friedberg/Bad Nauheim und Gießen. In Gießen kamen riesige Depots hinzu, die quasi den gesamten Osten der Stadt im Halbkreis umschlossen.
Die GIs brachten natürlich ihre religiösen Überzeugungen mit über den großen Teich. Und so entstand Anfang der 50er Jahre in Gießen eine große „evangelikal“ geprägte Gemeinde nach US-amerikanischem Muster. Diese Gemeinde hatte ein ausgeprägtes Missions- und Sendungsbewußtsein, schließlich wollte man den „damned Krauts“ nicht nur Demokratie, sondern auch den (in des Wortes doppelter Bedeutung) „rechten“ Glauben beibringen. So öffnete sie sich schon früh für deutsche Mitglieder, ja warb dezidiert um sie. Als Kirche diente (und dient bis heute) eine ausrangierte Baseballhalle, die vor allem eines ist: groß. Sie bietet etwa 1500 Menschen bequem Platz und hat mit entsprechenden Nebenräumen und einem großen Parkplatz in verkehrstechnisch gut erreichbarer Stadtrandlage eine angemessene Infrastruktur für große Besuchermassen. Doch nicht nur darin ähnelt sie amerikanischen Großgemeinden.
Anfangs amtierten Pastoren aus den USA. Mitte der 70er Jahre bekam die Gemeinde allerdings einen deutschen Pastor, der bis 2001 amtierte und diese Gemeinde in mehr als 30 Amtsjahren mehr oder weniger brachial nach seinen Vorstellungen gestaltet hat.
Als wir Mitte der 90er nach Hessen kamen, hatte ich zunächst keine feste Spielverpflichtung und wird nutzten die Zeit, um am Sonntag etwas durch die bunte Gemeindelandschaft zu ziehen, um zu hören, was wo gepredigt und wie wo musiziert wird.
Ich arbeitete damals als „Chef vom Dienst“ bei einer Nachrichtenagentur und zwei meiner engen Mitarbeiter gingen in diese Gemeinde. So wurden wir quasi zwangsläufig eingeladen, mal dort zum Gottesdienst zu kommen. Mein erster von mehreren Besuchen dort wurde zum Zeitsprung in die USA der 50er Jahre, in die „Mc-Carthy-Ära“, geprägt von „Kommunistenfurcht“ und einem spießigen gesellschaftlichen Klima hinter gutbürgerlicher Fassade, an der nur bei genauem Hinsehen zu erkennen war, wie viele Risse, ja Brüche sie bereits hatte.
Vorne gab es eine über die ganze Raumbreite reichende „Bühne“ mit Blüthner-Flügel, Orgel, Kanzel und Altartisch, statt eines Kreuzes an der Wand eine riesige Leinwand für die Projektion der Liedtexte. Ansonsten war der Raum absolut schmucklos – nichts, an dem sich ein ästhetisch geschulter Blick festgemacht hätte. Interessant waren lediglich die spanischen Trompeten der Orgel von Gerhard Schmid, die mit II/17 deutlich unterdimensioniert war. Aber wozu gibt es Verstärker? Am Ende des Saales befand sich die Kanzel der Tontechniker, die über Wohl und Wehe jeder Darbietung entschieden, indem sie die reichlich herumstehenden Mikrophone mehr oder weniger gekonnt pegelten.
Das Gottesdienstpublikum hätte in jedem Ausstattungsfilm der 50er als Komparserie mitwirken können. Die Männer (es war im Hochsommer) trugen dunkle, lange Hosen und weiße Hemden mit Krawatte, das Haar gestutzt und gescheitelt, die Frauen in luftigen, bunten Kleidern oder Kostümen, deren Röcke züchtig und weit genug unter dem Knie endeten. Die Buben als verkleinerte Abbilder ihrer Väter, die Mädchen in Röckchen und weißen Söckchen, mit Schleifchen in den lockig ondulierten Haaren, die Teenagerinnen gern mit Gretchenzopf und bodenlangen Faltenröcken, um die Jünglinge nicht in Versuchung zu führen. Meine Frau trug (als damals Enddreißigerin!) Jeans und kam sich angesichts mißbilligender Blicke etlicher Geschlechts- und Altersgenossinnen deutlich „underdressed“ vor.
Über allem lag ein Duft aus „Tosca“ und „4711“, der es im Lauf der Jahre sogar geschafft hatte, den Turnhallenmief zu überdecken, auf den ich stets mit einem ausgeprägten Drang nach Frischluft reagiere.
Der Gottesdienst bestand aus zwei Teilen:
1.) einer 45-minütigen Predigt des Pastors. Sie war „lebenspraktisch“. Will heißen: Er erklärte seinen andächtigen Schäfchen mit detailliert ausgefeilter Kasuistik und langatmigen „biblischen“ Begründungen, was sie in konkreten Alltagssituationen als Christen zu tun und zu lassen hätten, damit sie deutlich als solche zu erkennen und damit dem Herrn ein Wohlgefallen wären.
2.) einer nicht enden wollenden Folge diverser musikalischer Darbietungen, dem so genannten "Lobpreisteil". Unumstößlicher Maßstab aller gebotenen Kunstgenüsse war der Musikgeschmack des Pastors.
Wie ich später erfuhr, gab es in der Gemeinde drei kinderreiche Arztfamilien (Ärzte der diversen Uni-Kliniken und akademisches Personal der restlichen Uni-Fakultäten waren in Gemeindeleitung und Gemeindevolk deutlich überrepräsentiert), die darin wetteiferten, die Musikalität ihres Nachwuchses auf der Kirchenbühne zu präsentieren. Es ging zu wie bei der Vorauswahl zum Wettbewerb „Jugend musiziert“ in einem Provinzstädtchen.
Aufgeregte, sorgfältig gebügelte und geschniegelte Kinder und Teenager erklommen den Klavierschemel oder postierten sich mit ihren Instrumenten vor Notenpulten und präsentierten der andächtig lauschenden Gemeinde die Erfolge (und Mißerfolge) ihres bisherigen Musikunterrichtes: Sonatinchen von Clementi oder Kuhlau, Geigen-, Flöten- oder Klarinetten-Etüden, „Vortragsstücke“ in diversen Kammerbesetzungen. Kirchenmusik war übrigens nicht dabei – auch nicht im weiteren Wortsinn.
Zwischendurch hüpfte ein Jüngling vom Klavier an die Orgel, zog alle Register (auch die verstimmten), was sich als notwendig erwies, um den Gemeindegesang halbwegs zu bändigen. Denn er konnte kein Pedal spielen und übertrug die „Manieren“, mit denen man in der linken Hand Choräle auf dem Pianino zu begleiten pflegt, auf die Orgel, ständig mit einem Fuß nach der fehlenden Dämpferhebung tastend, die kaschiert hätte, dass ihm der Begriff „Legatospiel“ ein Fremdwort zu sein schien.
Doch was soll‘s. Es war ja alles gut gemeint. Jede Darbietung wurde enthusiastisch beklatscht, jedenfalls solange der Pastor klatschte.
*Grusel*? Nein. *Gigagrusel*! Ich weiß nicht mehr, wie ich mich hinterher herausgeredet habe, als man mich um mein Urteil über die Qualität der künstlerischen Darbietungen bat.
Das ehemalige Kasernengelände goß seinen „spiritus loci“ erkennbar über die Gemeinde aus. Alles war perfekt organisiert. Es gab kein Gedränge, als die mindestens 1.200 Besucher die Halle verließen und sich in den Vor- und Nebenräumen zum Smalltalk gruppierten. Wer die Überfülle von Handlungsanweisungen aus der Predigt vergessen hatte, konnte eine blitzschnell hergestellte Kopie auf Tonkassette für fünf Mark nach Hause tragen und das Gehörte weiter verinnerlichen.
Wir wurden von etlichen Gemeindeverantwortlichen sofort als Gäste identifiziert (allein anhand der „aufreizenden“ Bekleidung meiner Gemahlin) und angesprochen. Die Meine hat ein ausgesprochen kommunikatives Wesen und „verriet“ zuviel. So eilte nach wenigen Minuten der wohl über einen effizienten Buschtelegrafen verständigte Pastor herbei und machte die Honneurs. Und in den Gesichtern meiner beiden Mitarbeiter entdeckte ich einen gewissen Stolz, der Gemeinde zwei potentielle neue Mitglieder zugeführt zu haben.
Wir sind dann noch zweimal – in entsprechenden Abständen – dorthin gegangen. Inzwischen hatte der Pastor wohl diskrete Erkundigungen über mich eingezogen. Und beim nächsten Besuch hielt er bereits im Vorraum auf mich zu und fragte, ob ich mich nicht an der Orgel produzieren wolle. Ich lehnte freundlich ab – ich weiß nicht mehr, ob ich unpassende Schuhe oder „keine Noten dabei“ vorschützte. Denn ich ahnte die Falle.
Mit meinen Mitarbeitern habe ich mich dann in der Folge einige Male über die Gemeinde und ihre ganz spezielle Soziologie gesprochen. Sie haben mir – mehr oder weniger ungewollt – meine spontanen und ersten Eindrücke aus drei Besuchen bestätigt bzw. erheblich vertieft und erhellt.
Diese Gemeinde war ein absoluter Singular in einem pluralen Umfeld. Sie bestand aus einem bestandssichernden und nahezu perfekten und effizienten System der sozialen Kontrolle. Der Pastor saß quasi als Spinne im Zentrum eines Netzes, in dem alle Informationen zusammenliefen, die die Ältesten der Gemeinde ihm zutrugen. Und auf eventuelle „Verfehlungen“ oder die Gefahr des „Abfalls“ wurde sofort reagiert. Eine wichtige Rolle spielten die „Hauskreise“, denen sich jedes Mitglied anzuschließen hatte. Dort wurde in wöchentlichen Treffen Gesinnung und Gemütslage der Mitglieder erfasst und im Gefahrenfall nach „oben“ rapportiert.
Wer im Gottesdienst fehlte oder den Hauskreis schwänzte, wurde sofort entdeckt und nach seinen Gründen befragt, ggf. im Rahmen eines unangemeldeten "Hausbesuchs" zweier Ältester. Da mischten sich Gemeindeälteste und Hauskreisleiter ungefragt und ungeniert ins Privatleben ihrer Schäflein ein, wenn sie das für geboten hielten. Sie „legitimierten“ das mit Zitaten aus den Pastoralbriefen des Paulus.
Mein Mitarbeiter, der mit Anfang 30 noch nicht verheiratet war, wurde ständig „bedrängt“, sich doch endlich eine Frau zu suchen. Vermutlich fürchteten die Ältesten, ein Junggeselle könne in bestehende Ehen „einbrechen“. Sein Freizeitverhalten stand quasi unter beständiger Kontrolle. (Hätte ja sein können, dass er sich unter "Huren und Säufer" mischt oder gar dem eigenen Geschlecht zugeneigt ist ...) Er schaffte den Absprung aus der Gemeinde erst, als er zu einer Tageszeitung ins Rhein-Main-Gebiet wechselte.
Als die Ehe eines uns bekannten Paares zerbrach, tagte in der Gemeinde eine Art „Femegericht“, das sich ein Urteil darüber anmaßte, wer daran „schuld“ sei. An der für „schuldig“ befundenen Frau wurde „Gemeindezucht“ ausgeübt. D.h. sie wurde ausgeschlossen, ihr Mann „durfte“ bleiben.
Ich habe die Gemeinde seit 20 Jahren aus den Augen verloren - obwohl die Wichernkirche, an der ich nur wenig später meinen Dienst antrat, nur drei Ecken weiter steht. Denn diese Gemeinde war eine sorgfältig abgeschottete Insel, die sich bewußt von der "Welt" fernhielt und sich selber genügte.
Ihren Missionseifer lebte sie indes aus an den Bewohnern der zentralen hessischen Sammelstelle für Migranten und Aussiedler, die in Gießen in einer ehemaligen Kaserne der Bundeswehr untergebracht ist. Dort bekamen der Pastor und seine Getreuen mehrfach Hausverbot, weil sie die Leute zu offensiv "bekehren" wollten. Das schlug auch publizistische Wellen, als sich die Leitung genötigt sah, das Hausverbot mit polizeilicher Hilfe durchzusetzen. Es kam zu einem Strafverfahren wegen Hausfriedensbruchs, an dessen Ende Geldstrafen standen.
Als der Pastor zur Jahrtausendwende in den Ruhestand trat, wurde ein "Machtvakuum" frei, wie sonst nur in der großen Politik beim Tode eines Diktators. Aus den Augenwinkeln habe ich dann noch ein paar Diadochenkämpfe wahrgenommen – allerdings, ohne das Ergebnis registriert zu haben. Üblich sind in solchen Fällen ja Spaltungen einer Gemeinde und Neugründungen. In deren Satzungen steht dann übrigens gern ganz vorne der Satz: „Die Gemeinde betrachtet es als oberstes Ziel, das Evangelium zu verbreiten und der Einheit aller Christen zu dienen.“ Nun denn …
LG
Michael
Ebi
(
gelöscht
)
#30 RE: RE:Musik in amerikanischen Freikirchen
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